HISTORICAL Band 0264
aus dem Sinn.
Er hatte sich verändert. Jahrelang war Blair imstande gewesen, die schmerzliche Sehnsucht in Schranken zu halten, die seine Liebeserklärung und sein erster scheuer Kuss vor langer Zeit in ihr geweckt hatten. Heute jedoch war er ein anderer, nicht länger der Knabe, der schon in frühester Kindheit ihr Herz gewonnen hatte. Jetzt war er ein Mann. Etwas Gefährliches haftete ihm an, etwas Wildes, Verwegenes, selbst in der häuslichen Umgebung von Duncan House. Und der neue Kuss hatte nichts mehr gemein gehabt mit dem, an den Blair sich erinnerte. An diesem Morgen war ihr, als hätte Cameron mit dem heißen Kuss ihre ganze Seele in Aufruhr versetzt und jeden Gedanken an die einst so sanfte und scheue Berührung ihrer Lippen ausgebrannt. Jahrelang hatte sie die Erinnerungen lebendig erhalten, doch nun wurden sie von einem Gefühl verdrängt, das sie Camerons Gegenwart und sein Verlangen noch immer spürbar empfinden ließ, obgleich er längst gegangen war.
Zum Teufel mit ihm!, dachte sie zornig. Wohin hatte sich die Beglückung, die Zufriedenheit verflüchtigt, die beim Anblick des Weihnachtsschmuckes und der halb gefüllten Körbe und beim Gedanken an die Freude, die diese kleinen Liebesgaben den Beschenkten bringen würde, die Eintönigkeit des Lebens verblassen ließ? Wohin Blair auch schaute, überall sah sie Cameron vor sich. Sein Bild verfolgte sie so sehr, dass alles Vorgefühl auf das Weihnachtsfest es nicht auszulöschen vermochte.
Welche Frechheit, in ihr friedliches Dasein einzudringen! Wie konnte er es wagen, ihr die Feiertage so zu vergällen? Bisher hatte die vorweihnachtliche Zeit geholfen, das Ungemach der übrigen elf Monate vergessen zu machen. Und woher nahm er die Unverfrorenheit, Blair so zu küssen? Noch schlimmer war, dass er über sein Handeln nicht im Geringsten erschüttert schien. Wahrscheinlich bedeutete ihm der Kuss nicht mehr als der andere, mit dem er vor Jahren sein falsches Versprechen besiegelt hatte. Sonst wäre er ganz gewiss heute Morgen nicht so brüsk und wortlos gegangen.
Warum kehrte er nicht endlich nach London zurück? Er sollte ihr für alles büßen, was durch seine Schuld in der Umgebung von Glenmuir geschehen war, vor allem auch für den Aufruhr, den er in ihrem bisher so stillen Dasein ausgelöst hatte. Hoffentlich suchte ihn der geheimnisvolle Wohltäter der Armen in diesem Jahr besonders arg heim! Es geschah ihm recht, wenn er beraubt und bestohlen wurde. Vielleicht zog er es dann vor, für immer nach England zu gehen und nie wieder einen Fuß auf schottischen Boden zu setzen. Schließlich hieß es ja, zur Weihnacht dürften selbst Erwachsene träumen und geheime Wünsche hegen, dachte Blair boshaft.
Das rachsüchtige Gefühl wich schnell Schuldbewusstsein. Sie seufzte und beeilte sich, die Marmeladentöpfe zu beschriften. Was war nur aus dem Frieden auf Erden geworden, den das Christfest verhieß? Wieso war sie durch einen Kuss so aus der Fassung geraten? Doch wozu nach einer Antwort suchen? Während sie kleine Stechpalmenzweige in die Ecken der Klebezettel zeichnete, wusste sie recht gut, dass sie Lord Lindsay von nun an aus dem Wege gehen musste. Und dieser Entschluss wurde keineswegs aus Zorn geboren, sondern war reine Notwendigkeit, sich selbst zu schützen.
Sie sah auf und bemerkte Mrs. Brown, die sie von der Tür aus beobachtete und sich die Hände an der Schürze abwischte. Sie lächelte gewinnend und begann, über die nahen Feiertage zu plaudern, um die Haushälterin versöhnlich zu stimmen. Wenn Lord Lindsay keine Zeit daran verschwendete, an Blair zu denken, und der Kuss seinen Seelenfrieden nicht zu erschüttern vermochte, warum sollte sie sich dann davon verstören lassen? Diese Einsicht änderte allerdings wenig daran, dass Blair sich elend fühlte. Sobald Mrs. Brown gegangen war, schwand auch das Lächeln aus ihrem Gesicht.
Es war stockfinster und die Luft kalt und schneidend. Cameron Montgomery, Earl of Lindsay, zog einen Strohhalm aus dem Haar und veränderte, die Pistole in der Hand, lautlos die Stellung, während er darauf wartete, dass der Bedienstete sich endlich nach der nutzlosen Suche ins Haus zurückziehen würde. Zwar schlug sein Herz heftig, doch er atmete ruhig und zeigte nicht, wie sehr er sich in den letzten Stunden körperlich angestrengt hatte. Seine Miene war wie aus Stein gemeißelt und verriet nichts von den Gefühlen, die in ihm tobten.
Der Verfolger rief Befehle. Vermutlich beteiligten sich noch andere Männer an
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