HISTORICAL Band 0264
während Blair bereit gewesen war, sie aufs Spiel zu setzen, weil Cameron ihr einen die Sinne betörenden Kuss gegeben hatte. Was war mit ihr geschehen, dass sie seine Zärtlichkeiten so genießen, die leidenschaftlichen Liebkosungen noch auf den Lippen und Brüsten fühlen konnte?
„Madam, sind Sie wach?“, rief Mrs. Brown im Korridor. In den letzten Jahren war Miss Duncan stets früh auf den Beinen gewesen, hatte in der Küche Feuer gemacht und das Teewasser aufgesetzt. Dass sie es heute unterließ, nachdem sie gestern Abend wie ein geprügelter Hund in ihr Schlafzimmer geschlichen war, beunruhigte die Haushälterin sehr. Mit einem Lächeln, das unbefangen wirken sollte, betrat sie nach leisem Klopfen den Raum. Ihrem prüfenden Blick entgingen weder Miss Blairs geschwollene Lider noch die tränennassen Wangen. Sie setzte sich auf die Bettkante und reichte Blair eine Tasse heißen Tee. „Ich fürchte, seit gestern beunruhigt Sie nicht nur die Erkältung. Wollen Sie mir nicht erzählen, was Sie bedrückt?“
„Nein. Es ist nur das ungewöhnliche Wetter, das mich stört, und dass ich die Körbe noch nicht fertig habe.“
„Und?“, forschte die Wirtschafterin weiter. „Sie wissen, mit mir können Sie über alles reden.“
„Und die Engländer, die dauernd in unser Leben eingreifen, uns die Weihnachtsfreude schmälern und Sitten und Festtagsbräuche durcheinanderbringen. Jetzt haben sie sogar eine Belohnung für die Ergreifung des weihnachtlichen Wohltäters ausgesetzt, während man eigentlich sie verfolgen sollte“, erwiderte Blair und dachte dabei ganz besonders an einen bestimmten Mann.
„Ian Ferguson ist heute früh vorbeigekommen und hat Robbie anvertraut, dass der Unbekannte sogar heute Nacht zugeschlagen hat. Angeblich hat er Rinder aus der Herde der Enrights mitgenommen und einige Schafe. In Lindsay Hall soll Wildbret fehlen. Ich habe nie begriffen, warum der Earl als Junggeselle solche Vorräte im Haus hat, weil er ja nur von Zeit zu Zeit hier ist.“
„Da die ihm gestohlenen Sachen sehr wahrscheinlich unseren Leuten zugutekommen werden, kümmert mich sein Schaden herzlich wenig. Hat eigentlich schon jemand etwas geschenkt bekommen?“
„Sie, Madam, obwohl ich annehme, dass die Gaben der vergangenen Nacht nicht von dem geheimnisvollen Spender sind, eher von großzügigen Nachbarn, die einiges entbehren konnten“, sagte Mrs. Brown und ging zur Tür.
„Was hat man uns denn gebracht?“, erkundigte Blair sich neugierig und schlug die Decke zurück. Die Pflicht durfte sie nicht vernachlässigen, ganz gleich, welche Probleme sie hatte.
„Einen großen Sack Hafer, zwei Jagdmesser, drei Schinken und eine Menge Würste.“
„Dann wollen wir an die Arbeit gehen, Mrs. Brown“, sagte Blair lächelnd. Sie erinnerte sich an die Bemerkung, die Lord Lindsay bei Lord Haverbrooks Gesellschaft gemacht hatte. Nichts würde Blair den trüben Tag mehr aufheitern als das Bewusstsein, dass der unfreiwillige Spender der Gaben, die sie jetzt aufteilen und in den Körben unterbringen würde, Cameron, Earl of Lindsay, war.
Als Blair am Nachmittag ihr Werk begutachtete, erfreute sie der Anblick der Lebensmittel und nützlichen Dinge, die sich angesammelt hatten. Natürlich war der Bedarf größer als alles, was sie geben konnte, aber trotzdem würde der Inhalt der Körbe Anlass für ein Weihnachtsfest sein, das die Leute so schnell nicht vergaßen. Es war schade, dass sie nicht mehr Wollsachen und Saatgut für das neue Jahr hatte auftreiben können. Dennoch hatten zwanzig Familien allen Grund, dankbar zu sein für das, was sie geschenkt bekamen.
Ein Klopfen an der Küchentür schreckte Blair auf. Lord Lindsay konnte nicht so ungezogen sein, ihr nach seinem unmöglichen Benehmen einen neuen Besuch abzustatten! Das Gebot der Gastfreundschaft würde sie zwingen, ihn zu empfangen. Mrs. Brown hatte zwar den Auftrag, niemanden vorzulassen, aber würde der Earl sich damit begnügen?
„Der Earl of Lindsay lässt Sie grüßen, Miss Blair“, sagte die Wirtschafterin.
„Ich will ihn nicht sehen. Richten Sie ihm aus, ich fühle mich nicht wohl“, erwiderte Blair und errötete bei der Erinnerung, wie viel er bereits von ihr gesehen hatte.
„Er ist nicht geblieben und hat nur gebeten, Ihnen diesen Brief zu geben“, sagte Mrs. Brown. „Ich hole Ihnen eine Tasse Tee.“
Blair überlegte, ob sie das Schreiben nicht gleich ungelesen ins Feuer werfen wollte. Andererseits war Lord Lindsay ihr eine Bitte um Verzeihung
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