HISTORICAL Band 0264
schuldig. Sie brach das Siegel, entfaltete langsam den Bogen und begann zu lesen.
Meine liebe Miss Blair!
Sie sind gestern Abend aufgebrochen, ohne nach einem Beitrag für Ihre Weihnachtskörbe zu fragen. Bitte, kom men Sie so bald wie möglich vorbei. Ich will mich gern großzügig erweisen. Auch ich gehöre zu denen, die von Herzen gern schenken und dabei nicht sparen. Ich bin überzeugt, dass es Ihnen Vergnügen machen wird.
Cameron
Überzeugt, dass es mir Vergnügen machen wird?, dachte Blair erbost. Nicht etwa ihm selbst? Sie warf den Brief in die Flammen und sah zu, wie er verbrannte. Zum Teufel mit Cameron! Wer war er eigentlich, dass er sich einbildete, sie würde zu ihm zurückkriechen, wenn er ihr einen verlockenden Köder hinhielt?
„Die falsche Schlange macht mir ein Angebot, das ich nicht ausschlagen kann“, murmelte sie zornig und ging unruhig vor dem Herd auf und ab. „Wie konnte ich ihm je vertrauen? Er ist nicht besser als alle anderen Engländer und nur darauf aus, uns auszunutzen und möglichst viel Vergnügen für sich selbst herauszuholen. Er schert sich keineswegs um seine Mitmenschen. Sie bieten ihm nur die passende Ausrede, um mich in sein Haus zu locken. Hm, so schnell wie möglich soll ich kommen? Gut, morgen werde ich ihn aufsuchen, und zwar in aller Herrgottsfrühe, da er zweifellos heute Abend bis in die Nacht bei den Enrights sein wird!“
Lord Lindsay gab vor, lieber daheim bleiben zu wollen, um über seine schnell schwindenden Vorräte zu wachen, und verbrachte deshalb den Abend allein in seinem Arbeitszimmer. Hier hatte er die meiste Zeit gesessen, seit Blair Duncan gegangen war, und sich und seine unbeherrschte Reaktion auf ihren Anblick in seinem Schlafzimmer verwünscht. Hätte er ahnen können, dass sie so schnell aus dem Bad kam, hätte er Mrs. Pearson beauftragt, ihm die Kleider zu holen. Andere Damen aus seinem Bekanntenkreis hätten gewiss Stunden im warmen Wasser vertrödelt und jeden Rat, sich zu beeilen, verärgert zurückgewiesen. Eigentlich wollte er gar nicht verweilen, doch dann hatte er Blair gesehen, frisch und rosig in ihrer Unschuld und so verführerisch, dass er jeden Sinn für Anstand und gute Sitte verlor. Sie hatte endlich zugänglicher gewirkt, doch nun würde sie ihm in Zukunft bestimmt aus dem Wege gehen, wenn sie nicht gar die Dorfbewohner mit Peitschen auf ihn hetzte!
Schmunzelnd legte Cameron Lord Haverbrooks Uhr auf den Schreibtisch. Es bereitete ihm diebische Freude, dass er sie Harry sozusagen unter der Nase weggestohlen hatte. Dann griff er nach dem Portefeuille mit den Dokumenten des Vaters, die dessen Anwalt ihm kürzlich zugesandt hatte. Achtlos blätterte er die Unterlagen durch und fand Empfangsbestätigungen für Waren, die vor zwanzig Jahren geliefert worden waren, seine eigenen Schulzeugnisse, Briefe der Mutter und Großmutter, von einem roten Band zusammengehalten. Die Briefe legte er beiseite, alles andere würde er verbrennen.
Schließlich blieb noch ein Bündel ungeöffneter, an ihn nach London gerichteter Schreiben aus Glenmuir zurück. Entschlossen brach er das alte Wachssiegel und begann den ersten Brief zu lesen. Die Handschrift war leicht verblasst, und Blair Duncan erzählte von Liebe und Sehnsucht, aber auch von alltäglichen Ereignissen und Erinnerungen, die sie einst mit ihm geteilt hatte. Nichts anderes stand im zweiten Schreiben, dem dritten und vierten. Erst im fünften spürte er zwischen den Zeilen die Enttäuschung und den Schmerz, dass er nicht geantwortet hatte. Im letzten, etwa ein Jahr alten Brief berichtete Blair vom Tod der Mutter und bat um Trost. Natürlich hatte Cameron auch darauf nicht geantwortet, da ihm keines der Schreiben ausgehändigt worden war. Jetzt stimmte es ihn traurig, dass der Vater alle Bande mit Glenmuir zerschnitten hatte.
Mit einem unterdrückten Fluch stand Cameron auf, goss sich Cognac ein und nahm auch die Karaffe mit in das Schlafzimmer. Wie hatte der Vater sich die Entscheidung anmaßen können, ihn und Blair Duncan zu trennen? Nun war es sicher zu spät, die Beziehung wiederaufzunehmen. Selbst wenn Blair dem toten Earl of Lindsay verzeihen würde, dass er die Briefe unterschlagen und selbstherrlich über das Leben anderer Menschen entschieden hatte, war sie doch von Cameron selbst zutiefst gekränkt worden, um ihm vergeben zu können. Sonst wäre sie gleich gekommen, um die Spenden für die Pächter abzuholen.
Bald ließ er das Glas unbeachtet auf dem Nachttisch stehen und trank
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