HISTORICAL Band 0264
Schritte. Dieser verdammte Jack Kestrel. Sie hatte geglaubt, die Bedrohung, die er darstellte, in Schranken halten zu können. Sie hatte sich vorgestellt, wie er harmlos bei Tisch saß und ihren Champagner trank; stattdessen schlug er den König beim Baccara und ruinierte sie nebenbei gleich mit. Matty hatte recht. Er war gefährlich. Sie hätte ihn niemals aus den Augen lassen dürfen.
„Ich würde ja nur ungern sagen, dass er betrügt“, sagte Dan mit seinem breiten irischen Akzent, „aber …“ In seinen blauen Augen stand Verwirrung. „Ich hab ihn beobachtet, und er hat entweder unverschämtes Glück, oder aber …“ Er ließ das Ende offen.
Sally blieb so diskret in der Tür stehen, dass sie Jack Kestrel am Baccaratisch beobachten konnte, ohne von ihm selbst gesehen zu werden. Er saß lässig auf seinem Stuhl zurückgelehnt, eine dunkle Haarsträhne fiel ihm in die Stirn, die Karten hielt er locker in einer Hand. Sein Jackett hatte er abgelegt, und das blütenweiße Hemd bildete einen starken Kontrast zu seiner dunklen, sonnengebräunten Haut. Unwillkürlich musste Sally wieder an seine verwegenen Vorfahren denken. Seine Ausstrahlung träger Arroganz, seine perfekt geschneiderte Garderobe, die lässige Anmut, mit der er sie trug – all das erinnerte an die Spieler eines vergangenen Jahrhunderts, an die tollkühnen Draufgänger, die im London des Regency Vermögen machten und wieder verloren. In einer Zeit, die genau wie die jetzige schillernd und glamourös war und in der man dem Lockruf des Geldes leicht erlag.
„Miss Bowes?“, drängte Dan flüsternd, und Sally kehrte in die Gegenwart zurück.
„Ich denke gerade nach, was ich tun soll.“
„Dann denken Sie lieber schneller, denn inzwischen hat die Bank schon zehntausend verloren.“
Sally ließ den Blick über die anderen Spieler am Tisch schweifen. Sie wollte sich nicht drängen lassen, denn von dem, was sie als Nächstes tat, konnte ihr ganzes Unternehmen abhängen. Es stand auf Messers Schneide. Wenn Jack Kestrel weiterspielte und gewann …
Die meisten anderen Leute im Raum waren ihr bekannt. In letzter Zeit suchte der König das Blue Parrot regelmäßig auf und brachte seine Spießgesellen mit. Obwohl er gerade eine Pechsträhne hatte, schien er guter Laune zu sein. Neben seinem Ellenbogen stand ein volles Glas Champagner. Der Rauch seiner Zigarre stieg nach oben und waberte um den Kronleuchter. Unter schweren, halb gesenkten Lidern hervor verfolgte er das Spiel und strich sich von Zeit zu Zeit nachdenklich über seinen akkurat geschnittenen Bart.
„Sie haben wirklich verteufeltes Glück“, hörte Sally ihn jetzt sagen. „Glück im Spiel, Pech in der Liebe, wie? Wodurch Sie zwar reich werden, aber niemanden haben, für den Sie Ihr Geld ausgeben können!“
Seine Entourage lachte pflichtschuldig, und Sally sah den Anflug eines Lächelns auf Jack Kestrels Gesicht. Er hatte bestimmt keine Schwierigkeiten, eine bereitwillige Frau zu finden, die er mit Geld überschütten konnte, denn er war ohne Zweifel der bestaussehende Mann, den sie je im Blue Parrot gesehen hatte. Auch war sie nicht die einzige Frau, die das fand. Die Mätresse des Königs, Mrs. Alice Keppler, sah geradezu königlich aus in ihrem goldfarbenen Abendkleid und mit den glitzernden Diamanten auf ihrem beeindruckenden Dekolleté, und sie betrachtete Jack mit mehr Interesse, als der König es für angebracht halten mochte. Eine blonde Frau in einem engen roten Seidenkleid und mit passendem roten Lippenstift hatte sich auf den Stuhl neben Jack drapiert, aber der schien sie gar nicht zu bemerken, denn er hielt den Blick konzentriert auf die Karten gerichtet, und seine ganze Aufmerksamkeit galt dem Spiel. Ungeduldig tappte die Frau mit dem Fuß auf den Boden, weil Jack sie nicht beachtete, und schnippte die Asche von ihrer Zigarette.
„Was soll ich tun, Miss Bowes?“ Dan wartete auf ihre Anweisungen. „Soll ich ihn vielleicht hinauswerfen?“
Sally lachte. Ein verlockender Gedanke, aber sie war sich nicht sicher, ob sie Dan an diesem Abend ein so striktes Vorgehen erlauben konnte – jedenfalls nicht in Anwesenheit des Königs. „Nein. Lassen Sie mehr Champagner, Kaviar und geräucherten Lachs bringen.“
„Noch mehr?“, rief Dan entsetzt. „Gott bewahre, sie haben schon ein halbes Dutzend Flaschen gelehrt und sind erst seit einer halben Stunde hier!“
„Sie klingen wie mein altes Kindermädchen“, tadelte Sally. „Wir sind nicht hier, um auf ihre Gesundheit zu
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