HISTORICAL Band 0264
ein ungestümer Jüngling, nicht wie ein erfahrener Mann. Später, wenn die Sache mit seinem lästigen Cousin und Sallys intriganter Schwester erledigt war, würde er mit Sally ins nächstgelegene Hotel gehen und sie lieben, bis sie beide erschöpft waren. Bis dahin musste er sein Verlangen im Zaum halten. Es würde ein langer Tag werden.
Es war schon spät am Nachmittag, als Jack den Lanchester durch das imposante Portal des Anwesens seiner Schwester steuerte. Auf der gekiesten Zufahrt vor dem Haus hielt er an. Sally sah sich interessiert um. Dauntsey Park war gewaltig und erinnerte vom Stil her an ein gotisches Bauwerk, mit Türmen, die eher zu einem Spukschloss gepasst hätten als zu einem Herrenhaus in den grünen Wiesen von Oxfordshire. Als Jack ihren ungläubigen Blick auffing, brach er das Schweigen, das fast die ganze Fahrt über zwischen ihnen geherrscht hatte.
„Es ist wirklich ein Monstrum“, stimmte er zu. „Stephen Harringtons Großvater hat es Mitte des letzten Jahrhunderts bauen lassen, um alle seine architektonischen Lieblingsstile darin zu vereinen.“ Er seufzte. „Er hatte ziemlich viele davon, wie Sie auch im Haus feststellen werden.“
Sally brachte ein kühles Lächeln zustande. Sie war müde und schlecht gelaunt. Sie und Jack hatten in den letzten vier Stunden kaum gesprochen, auch nicht während des Mittagessens, das sie in äußerst angespannter Atmosphäre in einem idyllisch gelegenen Gasthaus in Windsor eingenommen hatten. Während der Weiterfahrt hatte Sally versucht zu schlafen, aber in der Ecke des Wagens war sie sich Jacks Nähe zu deutlich bewusst gewesen. Außerdem hatte die Krempe ihres Huts sie daran gehindert, den Kopf entspannt ans Fenster lehnen zu können. Also hatte sie sich damit begnügen müssen, das Gesicht von Jack abgewandt zu halten, und nun hatte sie einen steifen Nacken.
Sie warf ihm einen verstohlenen Seitenblick zu. Sein Gesicht wirkte verschlossen, finster und streng, und ihr Herzschlag beschleunigte sich ein wenig. Seine Hände ruhten auf dem Lenkrad, gebräunt und kraftvoll, und ein Schauer überlief Sally. Trotz allem, was geschehen war, konnte sie ihm gegenüber nicht gleichgültig sein, die Leidenschaft zwischen ihnen war zu verzehrend gewesen. Jetzt wusste sie nicht, was sie für ihn empfand, aber es war ein starkes, beunruhigendes Gefühl, das ihr die Kehle zuschnürte.
Je mehr sie sich Abingdon genähert hatten, in dessen Nachbarschaft Dauntsey Park lag, desto angespannter war Sally geworden. Was war, wenn Connie und Bertie sich nun doch nicht dort aufhielten? Dann waren sie und Jack gezwungen, weiter nach Gretna Green zu fahren, und wer konnte sagen, ob das nicht ebenfalls ein fruchtloses Unternehmen war? Womöglich musste sie mit Jack das ganze Land abfahren, und das alles vergeblich. Und wenn sie das Paar doch aufstöberten, dann würde Jack Bertie zweifellos nach London zurückbringen und sie mit Connie sich selbst überlassen. Bei ihren überstürzten Reisevorbereitungen hatte sie wenigstens genug Geld mitgenommen, damit sie notfalls das Fahrgeld für die Rückfahrt mit der Eisenbahn bezahlen konnten. Trotzdem sah sie sich schon mit einer untröstlichen Connie die staubigen Straßen von Oxfordshire entlanglaufen, auf der Suche nach irgendeinem Bahnhof.
Jack stieg aus und ging um das Auto herum, um Sally die Tür zu öffnen. Sie verdrängte jeden Gedanken an bevorstehendes Unheil und gab ihm die Hand, damit er ihr beim Aussteigen behilflich war. Seine Berührung war genauso unpersönlich und kühl wie der Blick, mit dem er Sally bedachte. Ihr wurde noch schwerer ums Herz, als ihr bewusst wurde, dass sie hier an einem fremden Ort weilte, und das mit einem Mann, der nur Verachtung und allenfalls körperliches Verlangen nach ihr empfand.
Ein Butler hatte bereits die Eingangstür des Hauses geöffnet, und jetzt sprang ein kleines, etwa vier Jahre altes Mädchen mit rotbraunem Haar die Stufen hinunter und klammerte sich mit einem Freudenschrei an Jacks Bein.
„Onkel Jack! Onkel Jack!“
Eine junge Frau von ungefähr fünfundzwanzig Jahren war dem Kind gefolgt, warf sich in Jacks Arme und gab ihm einen herzhaften Kuss auf die Wange. „Jack! Du bist es wirklich! Wie herrlich!“
Sally beobachtete, wie Jack strahlend zu lächeln begann. Er bückte sich, hob das Kind hoch und wirbelte es durch die Luft, während es vor Aufregung und Begeisterung quietschte. Mit einem seltsam leeren Gefühl im Herzen verfolgte Sally die Szene. Es war, als sähe sie
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