HISTORICAL Band 0264
sie die Kante der Balustrade so fest umklammert hielt, dass ihre Fingerknöchel weiß hervortraten und der raue Stein ihre Handflächen aufschürfte.
„Sally?“, fragte er erneut. „Was hast du? Was ist geschehen? Hat Connie irgendetwas Hässliches zu dir gesagt?“
„Ja“, erwiderte sie. Sie dachte gar nicht daran, ihn anzulügen. Sie konnte nicht so tun, als wäre nichts gewesen, wenn plötzlich dieses schreckliche, ungeheuerliche Geheimnis zwischen ihnen stand. „Ja“, wiederholte sie. „Sie meinte, Bertie hätte ihr gesagt …“ Sie musste sich räuspern. „Bertie hätte ihr gesagt, dass du Merle Jameson umgebracht hast. Sie meinte, du hättest sie ermordet.“
Es herrschte Stille. Hinter ihnen plätscherte leise der Brunnen im Garten. Ein Schwan glitt auf dem stillen Wasser des Burggrabens vorbei, den Kopf im Schlaf unter den Flügel gesteckt.
„Und hast du ihr geglaubt?“, fragte Jack ruhig.
Sally sah ihn an. „Du hast mir selbst gesagt, sie wäre gestorben“, erwiderte sie langsam, und ihr war klar, dass das keine Antwort war.
Jack trat einen Schritt auf sie zu. „Du vertraust mir nicht.“ Seine Stimme klang hart.
„Ich weiß es nicht!“, brauste sie auf. Sie fühlte sich innerlich zerrissen. „Weiß Gott, ich will nicht glauben, dass du zu einem Mord fähig sein könntest. Ich kann es nicht glauben! Ich kann mir nicht einmal vorstellen, dass du sie vielleicht bei einem Unfall verletzt hast. Aber du hast mir nie die Wahrheit erzählt, Jack. Du sagtest nur, Merle wäre gestorben, doch du hast mir nie verraten, was damals geschehen ist.“
„Und wegen meiner Verschwiegenheit glaubst du, ich könnte schuldig sein?“ Seine kalte Stimme traf sie bis ins Innerste.
„Nein!“, rief sie, ohne nachzudenken, aber als er sich von ihr abwandte, kehrte ihre Übelkeit zurück. Sie wollte nicht, konnte nicht glauben, dass es wahr war …
„Connie hat recht.“ Jack vergrub die Hände in den Hosentaschen und starrte hinaus in die Dunkelheit. „Ich habe Merle umgebracht.“
„Nein“, wiederholte Sally, doch dieses Mal brachte sie nur ein Flüstern zustande. Ihr war eiskalt vor Entsetzen.
„Ich drückte die Waffe nicht selbst ab“, fuhr Jack fort, als hätte sie nichts gesagt. „Doch das spielt keine Rolle. Ihr Tod war meine Schuld, und diese Schuld trage ich seit damals mit mir herum.“ Er drehte sich halb zu Sally um, aber als sie die Hand ausstreckte, um seinen Arm zu berühren, zog er sich zurück, als könnte er die Berührung nicht ertragen.
„Es war meine Schuld“, betonte er noch einmal inbrünstig. „Du wolltest die Wahrheit hören – bitte, das ist sie.“
„Was ist geschehen?“ Die Kälte durchdrang sie bis in den letzen Winkel. Sie hatte geglaubt, die Wahrheit erfahren zu wollen, doch jetzt war sie sich nicht mehr so sicher. „War es ein Unfall?“
Jack verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich sagte dir bereits, dass ich damals jung und naiv war. Ich verliebte mich Hals über Kopf in Merle und wünschte mir verzweifelt, dass sie ihren Mann verließ und mit mir fortging. Als sie zustimmte, war ich der glücklichste Mann der Welt. Merle jedoch war nicht glücklich. Sie hatte Angst. Angst davor, was ihr Mann tun würde, wenn er davon erfuhr. Und ich …“, er seufzte schwer, „… ich habe ihre Angst mit einem Lachen abgetan. Jameson war gebrechlich, ich hingegen jung, stark und arrogant. Ich dachte, ich könnte sie beschützen.“ Sein Gesicht wirkte jetzt trostlos. „Als Jameson uns einholte, hatte er eine Pistole dabei. Ich dachte, er wollte mich zum Duell fordern, ja sogar töten. Das wäre nur gerecht gewesen. Ich dachte nicht einen Moment, dass er stattdessen Merle umbringen würde. Bis zum letzten Moment konzentrierten sich seine Aufmerksamkeit und sein Hass voll und ganz auf mich. Irgendwann bekam ich auch Angst. Ich dachte, ich würde sterben. Aber er schoss auf Merle, nicht auf mich, und es war meine Schuld. Ich bin verantwortlich für ihren Tod.“
„Nein“, antwortete Sally tonlos. „Es war nicht deine Schuld. Du hast nicht geschossen.“
„Aber so gut wie. Ich war derjenige, der Merle überredet hatte, mit mir durchzubrennen. Ich war derjenige, der ihr geschworen hatte, sie zu beschützen. Ich habe versagt.“
„Sie hat sich frei entschieden, mit dir zu gehen“, widersprach Sally. „Es war ihr Entschluss, genau wie es Jamesons Entschluss war, sie zu erschießen. Dafür bist du nicht verantwortlich, Jack.“
Jacks Miene war ausdruckslos,
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