HISTORICAL Band 0264
neben ihr ins Wasser hing, verfehlte es und ging erneut unter. Eine Sekunde lang hatte sie die erschreckende Vision, wie es für ihren Vater gewesen sein musste, als das Wasser über seinem Kopf zusammenschlug, doch dann war Jack neben ihr, schlang ihr fest den Arm um die Taille und zerrte sie zurück ans Tageslicht. Sie spürte seine Kraft und wusste, sie war gerettet. Er hob sie auf die Arme, der nasse Stoff des Kleides riss, und dann rollte sie über die warmen Planken des Stegs, als jemand sie in eine Wolldecke wickelte. Die Sonne begann, Sallys Starre zu lösen, und sie fing heftig zu zittern an.
Charlotte hielt Lucy in den Armen und rieb ihren eiskalten Körper mit der Decke ab. Lucy war wieder bei Bewusstsein und hatte sich heftig übergeben, was Sally für ein gutes Zeichen hielt. Lady Ottoline kommandierte die Bediensteten herum: Sie schickte einen Stallburschen ins Dorf, den Arzt zu holen, wies Dienstmädchen an, Wasser für die Badewannen heiß zu machen, und rief nach frischen Handtüchern und Decken. Stephen war eben erst blass und erschrocken aufgetaucht, um seine Frau und seine Tochter ins Haus zu bringen.
„Komm.“ Jack hob Sally wieder hoch. „Du musst aus diesen nassen Sachen heraus und in ein heißes Bad.“
„Gott sei Dank“, stammelte Sally zähneklappernd. „Gott sei Dank, dass du gekommen bist, Jack. Ich hatte solche Angst, sie nicht halten zu können. Ich dachte, sie wäre tot!“ Ihre Stimme gehorchte ihr nicht mehr, und sie barg das Gesicht an seinem Hals. Flüchtig war ihr, als streifte er ihre Wange mit einem unendlich zärtlichen Kuss.
„Das hast du sehr gut gemacht“, flüsterte er. „Du hast Lucy das Leben gerettet.“
Sally schloss die Augen, als er sie über die Terrasse, ins Haus und geradewegs hinauf in ihr Zimmer trug. Sie ignorierte die etwas hilflos herumhuschenden Bediensteten, dann schloss sich die Zimmertür vor ihren fragenden Gesichtern.
„Zieh die nassen Sachen aus“, forderte Jack Sally auf. Er stellte sie sanft auf den Boden des schwarzweiß gekachelten Badezimmers, wo bereits ein Bad für sie vorbereitet war.
Sally errötete. „Das werde ich nicht tun, solange du im Zimmer bist! Du kannst mir eine der Zofen schicken.“
Jack schüttelte den Kopf. „Die sind alle vollkommen durcheinander und wären zu gar nichts zu gebrauchen. Ich hole jetzt noch etwas heißes Wasser zum Nachgießen; wenn ich wiederkomme, will ich dich nackt und in der Wanne sehen.“
Ihre Wangen glühten, obwohl sie in dem nassen Kleid fror. Sie hörte die Zimmertür hinter Jack ins Schloss fallen und fing an, sich mit den Knöpfen und Schnüren des Kleides abzumühen, doch ihre Finger waren klamm und zitterten so sehr, dass sie vergeblich an ihnen herumnestelte. Als Jack nach nur wenigen Minuten zurückkehrte, hatte sie das Kleid gerade einmal zur Hälfte ausgezogen; aus dem nassen Stoff rann das Wasser zu Boden und bildete bereits eine Pfütze.
„Irgendwann“, meinte er nachdenklich, „wird es mir gelingen, dich auszuziehen, ohne dabei deine Kleidung zu ruinieren.“ Er riss den Stoff einfach durch und warf die Fetzen des Kleides achtlos zur Seite.
Sally zuckte erschrocken zusammen. „Das war Charleys Kleid!“
„Du glaubst doch wohl nicht ernsthaft, dass man das jemals wieder anziehen kann, oder?“, gab er zurück. Er sah sie an. „Möchtest du, dass ich dir das Hemd ebenfalls ausziehe?“
„Nein!“, rief Sally. „Geh jetzt!“
Jack grinste amüsiert. „Ich warte im Schlafzimmer nebenan auf dich.“
Nachdem er gegangen war, gelang es ihr, sich ihrer nassen Unterwäsche zu entledigen, und sie ließ sich erleichtert in das angenehm parfümierte Bad gleiten. Seufzend lehnte sie sich zurück, schloss die Augen und genoss das heiße Wasser, das ihre Schultern umspülte und ihren ausgekühlten Körper wohlig wärmte. Doch die leichten Schauer, die sie schüttelten, wollten nicht nachlassen. Ungebetene Bilder von ihrem leblos daliegenden Vater stiegen in ihr auf. Sein Gesicht war grau gewesen, als sie ihn endlich aus dem Fluss gezogen hatten, der Körper von Algen bedeckt, durchnässt und starr. Bebend dachte sie an das Gewicht von Lucy in ihren Armen und an die grauenvolle Angst, das Kind würde ihr entgleiten und ihr für immer verloren gehen, genau wie damals ihr Vater …
„Sally?“
Wegen der quälenden Bilder in ihrem Kopf hatte sie Jacks Stimme erst gar nicht gehört, doch nun erkannte sie erschrocken, dass sie schon sehr lange Zeit in der Wanne sitzen musste,
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