HISTORICAL Band 0264
fest, dass er nervös war. Jack Kestrel, der letzte große Lebemann Londons, hatte Angst, denn er liebte sie so sehr, dass er es nicht würde ertragen können, wenn sie seine Liebe nicht im selben Umfang erwiderte. Sallys Herz floss über, weil ihr bewusst wurde, wie sehr er sie brauchte.
„O Jack!“, sagte sie. „Ich liebe dich so sehr!“ Sie zögerte. „Obwohl ich dich erst so kurze Zeit kenne, ist mir, als liebte ich dich schon sehr, sehr lange.“
Jack gab einen zufriedenen Laut von sich und schlang die Arme fester um sie. Sally dachte flüchtig an Merle Jameson, an ihren Vater und die langen Schatten der Vergangenheit, unter denen sie und Jack all die Jahre gelitten hatten. Jetzt öffnete sie ihr Herz, wie eine Blume sich der Sonne öffnet, und ließ Reue, Eifersucht und Schuldgefühle für alle Zeit daraus entweichen. Dann wandte sie sich Jack zu und küsste ihn, bis sie sich wieder ineinander verloren.
EPILOG
Einen Monat später heirateten sie in der Kirche von Dauntsey. Charley und Nell waren die Brautjungfern, und Lucy gab ein entzückendes Blumenkind ab. Der König und die Königin waren Ehrengäste, was Lady Ottoline über alle Maßen befriedigte. Gregory Holt war Trauzeuge.
Connie und Bertie nahmen nicht an der Feier teil. Sie befanden sich auf einer verlängerten Hochzeitsreise in Schottland. Connie, die ihrer Schwester eigentlich hätte gratulieren sollen, schrieb, dass sie Schottland hasste. Es regnete die meiste Zeit, berichtete sie, und wenn nicht, würde sie von Mücken zerstochen; Bertie verbrächte die ganze Zeit mit Jagen und Angeln, und sie langweilte sich zu Tode.
Nach dem Hochzeitsempfang standen Sally, Jack und Lady Ottoline in der Halle vor dem Porträt von Lady Sally Saltire, der späteren Duchess of Greenwood. Lady Ottoline nahm Sallys Hand. „Eines Tages wirst du wie meine Mutter Duchess sein, und dann wird auch dein Porträt hier hängen. Ich weiß, sie hätte dich sehr geschätzt.“
Sally betrachtete das lebhafte Gesicht der Duchess mit ihren strahlenden grünen Augen und dachte, dass das möglicherweise auf Gegenseitigkeit beruht hätte.
Jack legte den Arm um Sallys Taille. „Sie wird eine wunderbare Duchess sein“, prophezeite er, und seine ganze Liebe zu ihr spiegelte sich in seinen Augen wider.
Lady Ottoline lächelte. „Und was dich betrifft, Neffe, so bin ich froh, dass du endlich nach Hause gefunden hast.“
Jack drehte sich um zu dem Porträt von Justin Kestrel, Duke of Greenwood, an der gegenüberliegenden Wand. „Der letzte Lebemann Londons ist unter der Haube“, sagte er mit einem unwiderstehlichen Lächeln. „Er ist zu Hause und sehr glücklich über sein Geschick.“
– ENDE –
Erin Yorke
Jedes Jahr zur Weihnachtszeit
1. KAPITEL
Das schwache Licht der Dezembersonne kämpfte gegen die früh einbrechende Dämmerung. Die grauen Schatten im Hochland wurden länger und verschmolzen mit der Farbe roh behauener Steinmauern. Die einfachen Häuser von Glenmuir standen dichtgedrängt an den schlechten Straßen des Dorfes. Durch den gefrorenen Schlammboden zogen sich tiefe Räderspuren. Ein unachtsamer Fremder hätte an der trostlosen Gegend kaum etwas Erfreuliches sehen können. Für den, der es mit aufmerksamen Augen betrachtete, war Glenmuir dagegen keineswegs so öde.
Aus den Schornsteinen stieg der Rauch von Torffeuern auf, und durch die Sprossenfenster fiel hie und da der Schein einer Kerze auf die Hauptstraße. Würzige Gerüche hingen in der Luft, denn der Bäcker arbeitete länger als gewöhnlich, um die Wünsche des Landadels nach süßen Leckerbissen zu erfüllen. Die Dorfbewohner freilich konnten sich derlei Köstlichkeiten, bei deren Anblick einem das Wasser im Mund zusammenlief, längst nicht mehr leisten. Dennoch hatte die Vorfreude auf das Weihnachtsfest offensichtlich auch die Leute ergriffen, die vor dem Laden von MacGregor & Son beisammenstanden. Ihre Einkaufskörbe waren fast so leer wie ihre Geldbörsen, aber ihre Mienen strahlten erwartungsvoller, als man es bei der Landbevölkerung dieser ärmlichen Gegend Schottlands vorausgesetzt hätte. Es war, als empfanden sie ihr Elend gar nicht mehr. Eingedenk herzlicher Erinnerungen schienen sie den Ort mit Besitzerstolz und wie durch einen Schleier der Hoffnung zu betrachten.
Diese Gefühle teilte bestimmt auch die junge Frau, die soeben aus dem Hause der Dorfschneiderin in die feuchte Kälte heraustrat. Die vierundzwanzigjährige Blair Duncan war ein hübsches Mädchen, dessen gutes
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