HISTORICAL Band 0272
Halt fuhr der Wagen durch Kingussie hindurch, wobei sie die qualmenden Überreste des abgebrannten Gasthofs sehen konnten. Susanna schauderte, als ihr bewusst wurde, wie nahe sie dem Tod in der letzten Nacht gewesen waren. Wenn das Zugpferd nicht gelahmt hätte …
„Was, wenn wir bis Galioch verfolgt werden?“, überlegte sie laut.
„Ich bin mir sicher, dass das der Fall sein wird“, erwiderte James. „Aber das wäre ein großer Fehler. Ich kenne jeden Mann, jeden Knaben im Umkreis von Meilen. Ein Fremder hat nicht die Möglichkeit, uns zu überraschen.“
„Ich bete, dass du recht behältst“, meinte Susanna. Eine Gänsehaut lief ihr über den Rücken. Wieder hatte sie vor Augen, wie James bleich und blutend im Bett ihres Vaters gelegen hatte. Wer auch immer hinter ihnen her war, er ging über Leichen. James hatte sich dem Attentäter nur in den Weg gestellt und wäre fast getötet worden. Wer auch immer es auf sie abgesehen hatte – sie wollte ihm nicht in die Hände fallen.
Die Kutsche legte an Fahrt zu. Erst am Nachmittag legten sie in einem kleinen Dorf abseits der Hauptverkehrsroute eine kleine Pause ein. James half Susanna aus der Kutsche und führte sie zu einem einstöckigen niedrigen Haus aus Granitsteinen, das gar nicht wie ein Gasthof aussah, auch wenn das Schild am Strohdach es als Gorse Dew auswies. Susanna musste sich bücken, so niedrig war die Eingangstür. Der Flur war mit frischem Stroh bedeckt. Die Öllampen, die das Innere des düsteren kleinen Raums beleuchteten, waren sehr alt und gaben nur wenig Licht. Auch der Eigentümer wirkte alt. Er presste ein Hörrohr ans Ohr, als James die Bestellungen aufgab. Seine knorrigen Knie unter dem Kilt waren nackt, sodass Susanna ihren Blick peinlich berührt abwandte.
James schenkte der altertümlichen Umgebung nur wenig Aufmerksamkeit und setzte sich an einen der drei schmalen Holztische. Er hatte nach dem einen Reiter schicken lassen, der ihm nun Bericht erstattete.
„Mylord, es war so: Letzten Abend kam ein junger Mann von Stand mit seiner …“ Er stockte und warf Susanna einen Blick zu.
„Nun, mit wem?“, fragte Susanna. Männer sind manchmal so töricht , dachte sie ..
Verlegen schlug der Mann die Augen nieder und murmelte: „… nun, ja, mit einer jungen Frau, Mylady. Es war offenbar der Erbe von Ambrose – das wird jedenfalls in Kingussie erzählt. Natürlich wollte er nicht, dass jemand erfuhr, dass er sich mit diesem, äh, Mädchen traf. Er hat also oben im ersten Stock zwei Zimmer gemietet.“
„Die beiden sind doch nicht verbrannt?“, fragte Susanna entsetzt.
„Nein. Das Feuer brach oben im Dachgeschoss aus. Niemand wurde getötet. Der junge Lord warf seine, äh, Gefährtin, aus dem Fenster, weil ihnen das Feuer den Weg nach draußen versperrte. Unten waren genug Männer, um die Frau aufzufangen. Sie ist unversehrt. Dem jungen Lord erging es nicht so gut. Er brach sich beim Sturz das Bein. Aber auch das wird wieder heilen, meinte der Wirt.“ Verlegen räusperte sich der Reiter, bevor er fortfuhr. „Die beiden waren in einer ähnlichen Kutsche wie Sie unterwegs. Der Wirt meinte, sie hätten gut bezahlt, aber keine Namen genannt. Sie sind angeblich geradewegs nach oben gegangen. Der Wirt sagte, danach wäre ein Mann gekommen, der nach dem Paar gefragt hätte. Er wollte wissen, woher sie kamen. Aber der Wirt konnte oder wollte ihm nichts sagen. Der Mann dachte wohl, er wisse genug. Drei Stunden später jedenfalls brach das Feuer aus.“ Er zuckte mit den Schultern und sah sie bedeutungsvoll an.
„Dass die beiden ein Geheimnis daraus gemacht haben, wer sie sind, ließ unseren Verfolger wohl annehmen, dass es sich um uns handelte“, dachte James laut. Susanna, die denselben Gedanken hatte, musste unwillkürlich schaudern. „Das Feuer kann kein Zufall gewesen sein.“
„Sicher nicht.“
„Gute Arbeit, Quarles!“, bedankte sich James. Er zog eine Münze aus seiner Tasche und schob sie dem Reiter zu, der die Belohnung einsteckte, dankbar nickte und sich dann entschuldigte.
Mittlerweile war das Essen serviert worden, das James bestellt hatte. Der Wirt schien kein Englisch zu sprechen. Er hatte sich mit James in einer für Susanna unverständlichen Sprache unterhalten. Ob das wohl Gälisch gewesen war? Susanna warf ihm einen kurzen Blick zu, um sich dann wieder ihrem Essen zu widmen. Es gab braunes Brot und Eintopf. Schweigend aßen sie im flackernden Licht der Öllampe ihre Teller leer. Susanna war froh, bald daheim
Weitere Kostenlose Bücher