HISTORICAL Band 0272
Intarsien, die den langen Holzlauf zierten. „Ein schönes Stück. Wie alt ist es?“
„Sie gehörte meinem Großvater. Das ist eine sogenannte Holster . Die hat man verwendet, bis für denselben Zweck Duellpistolen erfunden wurden.“
„Es gibt also kein Gegenstück?“
„Nein. Holster sind Einzelstücke.“
James öffnete die kleine Kiste, in der das Schießpulver, der Ladestock und Werkzeuge zum Reinigen untergebracht waren. Er legte alles vor ihr auf den Sessel und erklärte ihr, wie die Waffe funktionierte. Ihre Hände berührten sich, als er die Waffe drehte und wendete und ihr verdeutlichte, wie sie geladen und gefeuert wurde.
„Wie schwer sie ist“, sagte sie, während sie ihn erwartungsvoll anschaute. Er stand hinter ihr, die Arme um sie geschlungen, und führte ihre Hände. Sanft strich er über ihren Zeigefinger, den sie am Abzug hatte. Sie erzitterte. „Mache ich das richtig?“
„Nun ja“, murmelte er, lehnte sich nach vorne und streifte mit den Lippen ihre Wange.
Sie gab ein leises Geräusch von sich, atmete tief ein und entzog sich ihm. Mit beiden Händen drückte sie die Pistole an ihre Brust und wandte sich zu ihm um.
„Du solltest besser die hier nehmen und mir die andere geben.“
„Welche andere?“, meinte er abgelenkt, denn er spürte, wie Susannas Gegenwart ihn erregte.
„Die Webley, die mein Vater dir gegeben hat. Die hier ist zu schwer zu bedienen. Ich müsste viel üben, bis ich mit der hier sicher schießen kann.“
James brauchte einen Moment, bis er wieder klar denken konnte. Dann nahm er die alte Pistole und legte sie samt Zubehör zurück in die Truhe. „Der Earl hat dir erlaubt, mit dem Webley zu schießen?“, fragte er, nur um etwas zu sagen.
„Er dachte, es wäre ein netter Zeitvertreib für mich, auf Scheiben zu schießen, statt über die Stränge zu schlagen.“
„Und – hat es dir gefallen?“
„Nicht übermäßig“, gab sie zu. „Schüsse sind so furchtbar laut. Einmal hatte ich tagelang ein Klingeln in den Ohren. Ich dachte schon, ich würde schwerhörig werden. Aber ich habe ein gutes Auge.“
Die Stille, die zwischen ihnen herrschte, wurde nicht länger durch Geräusche von unten gestört. „Ich glaube, du kannst jetzt in dein Zimmer gehen“, meinte er schließlich.
„Gut“, sagte sie erleichtert. „Du musst mich nicht begleiten. Ich kenne den Weg.“
„Dann wünsche ich dir eine gute Nacht“, sagte er und öffnete ihr galant die Tür.
Sobald sie verschwunden war, spürte er seine Enttäuschung. Langsam zog er sich aus, begutachtete seine Wunde, die zum Glück trotz der wilden Tanzerei nicht wieder aufgebrochen war, und legte sich hin. Ich bin verrückt nach ihr, gestand er sich ein. Er wollte ihr gegenüber fair sein und sein Versprechen halten, ihr Zeit zu lassen. Gleichzeitig weckte sie in ihm die Lust, sich nicht ganz und gar edelmütig zu verhalten. Der Gedanke an Susanna hätte ihn eigentlich wach halten sollen. Stattdessen verfolgte sie ihn in seinen Träumen.
Am nächsten Tag galt es, den Schein zu wahren. Er durchwühlte die Kleidungsstücke in seinem bescheidenen Kleiderschrank und entschied sich für den besten Anzug seines Vaters.
Das schwarze enge Jackett passte ihm wie angegossen, und die dazu gehörende Hose war ebenfalls tragbar. Er griff zu einem weißen Hemd und suchte nach einem gestärkten Kragen. Wo waren nur seine guten Manschettenknöpfe? Er streifte die dunkle Weste mit smaragdgrünem und dunklem Silbergarn über die Arme und knöpfte sie zu. Nachdenklich musterte er sein Spiegelbild, als er das obligatorische Halstuch um den Hemdkragen schlang.
Susanna und ihr Vater schienen großen Wert darauf zu legen, dass er sich standesgemäß kleidete und benahm.
Dabei hatte er als Junge sogar mit den Dorfkindern gespielt, wenn er nicht Unterricht bei seinem Hauslehrer gehabt hatte. Mit elf war er dann von Zuhause weggelaufen, weil er unbedingt Seemann werden wollte. Das war der größte Fehler seines Lebens gewesen. Allzu schnell war er der Kindheit entwachsen. Auch nach seiner Heimkehr war er nicht länger derselbe. Er hatte versucht, möglichst schnell erwachsen zu werden, die nachgeahmt, die die Einzigen waren, die er sich dafür zum Vorbild nehmen konnte: seine Eltern. Das war ein weiterer schwerer Fehler gewesen. Dann war er zum Studium an die Universität gegangen. Wie so viele andere hatte er sich bemüht, Wissen zu erwerben – theoretisches Wissen, das nie für irgendeinen praktischen Zweck gebraucht
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