HISTORICAL Band 0272
vorübergehendes Gefühl. Dass er Susanna gegenüber Lust empfand, war an sich noch nicht schlimm.
Liebe dagegen war etwas Bleibendes. Und er liebte Susanna schon jetzt weit mehr, als es ihm recht war. Wenn sie wüsste, was er für sie empfand … Sie würde ihn gängeln. Gerade eine so willensstarke Frau wie sie würde seine Liebe benutzen, um ihn nach Strich und Faden zu manipulieren. Das konnte er ihr nicht einmal zum Vorwurf machen. So war nun einmal die menschliche Natur.
Nur zu gut erinnerte er sich, wie seine Mutter ihre Venedig-Reise durchgesetzt hatte. „Garrow, mein Lieber“, hatte sie gemeint und ihn traurig angelächelt. „Wenn du mich so sehr lieben würdest wie Bonwell, dann würdest du mit mir nach Venedig reisen. Er fährt dorthin. Jeder fährt dorthin. Und es ist so langweilig hier.“ Und sein Vater? Der hatte eilends alles stehen und liegen lassen, um Vorbereitungen für die Reise zu treffen. Nicht nur, weil er James’ Mutter liebte – nein, weil er wusste, dass seine Frau auch alleine fahren und Lord Bonwell ihn, wenn auch nur für die Dauer der Reise, ersetzen würde.
„Trent hat mir diese Smaragde geschenkt“, hatte sie beiläufig fallen lassen. „Sind sie nicht wundervoll? Er behauptet, dass er mich liebt, aber ich habe ihm natürlich gesagt, dass du mich noch viel mehr liebst. Das tust du doch, nicht wahr, Garrow?“ Und sein Vater hatte Diamanten gekauft, um das zu beweisen. Obwohl er wusste, dass seine geliebte Frau mit jemand anderem flirten würde, noch ehe er ihr die Diamanten um den Hals gelegt hatte.
Seine Mutter war ein egozentrisches Kind geblieben, selbst als sie weit über dreißig gewesen war. Sein Vater war in gewisser Weise ebenso kindlich gewesen. Beide hatten stets auf der Sonnenseite des Lebens gelebt. Er verlangsamte seine Schritte. In dieser Beziehung hatte es für ihn keinen Platz gegeben. Seine Mutter hatte ihn abwechselnd wie ein Haustier getätschelt und ihren Besuchern vorgeführt, zu anderen Zeiten aber einfach an das Personal abgeschoben.
Beim Gedanken daran sank James’ Stimmung. Als er den Aufenthaltsraum leer vorfand, seufzte er. Susanna wartete vermutlich oben auf ihn, bereit und willens, die Ehe zu vollziehen. Er jedoch hatte es nicht länger eilig, sich seinem Schicksal zu ergeben.
Zwar war Susanna anders als seine Mutter. Das wusste er, auch wenn sie sich in mancher Hinsicht ähnelten: Beide waren schön und besaßen Temperament. Beide waren verzogen und stur. Immer mussten sie ihren Kopf durchsetzen.
In einer Hinsicht jedoch unterschied sich Susanna von seiner Mutter: Sie war nicht selbstbezogen, sondern nahm andere Leute wahr, war mitfühlend und hilfsbereit.
Und Susanna hielt Wort. Wie einfach wäre es für sie gewesen, Mirandas seelenlosen Flirt mit ihm zu einer Affäre aufzubauschen und als Entschuldigung für eine Trennung zu benutzen. Sie hatte diese Chance nicht wahrgenommen, worüber sich James wunderte.
Sie schien ihn zu begehren, das wohl. Aber dennoch hatte sie die Ehe noch nicht mit ihm vollzogen. Nein, Begehren allein konnte es nicht sein, was sie in Drevers gehalten hatte. Doch was bewog sie, ihrem Begehren ausgerechnet jetzt nachzugeben?
Mit schwerem Herzen betrat James sein Schlafzimmer.
„Sind sie fort?“, fragte Susanna.
„Ja“, versicherte er ihr. Sie gab ein hübsches Bild in ihrem gerüschten weißen Baumwollnachthemd auf seinem übergroßen Bett ab. Unsicher blickte sie zu ihm hoch. Ihre Augen wirkten unnatürlich groß und ihre Lippen ein wenig verkrampft. Mit ihren gepflegten weißen Händen hielt sie sich die Bettdecke vor die Brust. Sie entsprach ganz dem Klischee einer tugendhaften Jungfrau, die sich auf dem Altar der Ehe opfert.
Angesichts ihrer Furcht überkam ihn Mitleid. „Wir können warten, wenn du es dir anders überlegt hast“, meinte er sanft. Er wusste, dass er ihr dieses Zugeständnis nicht machen sollte. Doch die Worte waren ihm entschlüpft, bevor ihm klar wurde, dass er damit wieder einmal ihr Wohlergehen vor seines stellte.
Überrascht sah er, wie sie plötzlich den Kopf schüttelte.
Aber ich kann sie doch nicht nehmen, wenn sie so ver schüchtert ist! James ging zu ihr hinüber und setzte sich auf die Bettkante. Er hoffte, dass sie seine Verzweiflung nicht bemerkte. „Susanna, vielleicht sollten wir erst noch darüber reden … Du … äh …“
„Aber du … du wolltest doch“, erwiderte sie unsicher. „Und ich … Nun gut …“ Sie bewegte sich unruhig. Plötzlich wurde James ein
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