HISTORICAL Band 0272
Ihnen. Selbst in meinen Träumen.“
Es war wie im Märchen. Eva senkte den Blick auf ihre verschränkten Hände, damit er nicht sah, dass ihre Augen in Tränen schwammen. Diese törichte Schwäche! Sie war eine vernunftbegabte, aufgeklärte Frau. Natürlich würde er in ihrem Albtraum nicht wie ein Ritter in silberner Rüstung auftauchen, um die Geister und Monster zu töten, die sie bedrohten. Und dennoch glaubte sie ihm. Sie glaubte an ihn.
Vor nicht allzu langer Zeit hatte sie ein Märchenbuch in den Händen gehalten, geschrieben von zwei deutschen Brüdern. Mit großer Begeisterung hatte sie es verschlungen. Wie lautete der Titel des Märchens gleich noch, das von einer schlafenden Prinzessin handelte? Ach ja, „Dornröschen“.
Dies hier war ein riskantes Märchen, denn sie wünschte sich mehr als nur den Schutz ihres edlen Ritters – sie sehnte sich nach seinen Zärtlichkeiten, hoffte, er möge sie aus ihrem langen Schlaf erwecken.
Auch Jack begehrte sie, das ahnte sie, wenn auch nur in der primitiven Art, in der ein Mann eine Frau begehrte. Er hatte die Reaktion seines Körpers auf die Frau auf seinem Schoß nicht leugnen können. Und das machte ihr Angst, denn ihr war bewusst, dass auch sie davon erregt worden war, ehe ihr Verstand registriert hatte, was sich zwischen ihnen anbahnte. Sie musste sich vor dieser Gefahr hüten, so wie sie es sich vorgenommen hatte. Erst vor wenigen Stunden hatte sie sich geschworen, sich während der ganzen Reise ihm gegenüber distanziert zu verhalten. Doch dieser Angstzustand, dieser Anfall von Hysterie hatte ihre sorgfältig kalkulierte Reserviertheit ihm gegenüber zusammenfallen lassen wie ein Kartenhaus.
„Woran denken Sie?“ Seine Stimme klang wieder völlig objektiv. Sie hatte beinahe den Eindruck, er prüfe ihren Gemütszustand, wie er die Schärfe einer Klinge inspizieren würde, die er bald benutzen wollte. Oder wie die Ausdauer eines Pferdes.
„Ich denke an Märchen“, antwortete sie, ohne zu lügen, und blickte auf. Die Wahrheit zu sagen war immer am leichtesten, und das Thema erschien ihr harmlos zu sein. Auch das hatte sie schließlich gelernt: Finde ein neutrales Thema, um deinen Gesprächspartner in Sicherheit zu wiegen. „Es gibt ein wunderschönes deutsches Märchenbuch.“
„Von den Gebrüdern Grimm? Ja, das kenne ich.“ Er schmunzelte über ihr verblüfftes Gesicht. „Sie wundern sich, dass ich Märchen lese?“
„Vielleicht haben Sie Neffen und Nichten?“
„Nein. Im Übrigen halte ich das Buch nicht wirklich für Kinder geeignet, finden Sie nicht auch? Zu viel Erotik, zu viel Angst und Gewalt.“
Damit kam er ihren Fantasien gefährlich nahe, stellte sie verwirrt fest. „Ja, natürlich“, antwortete sie hastig. „Damit haben Sie vollkommen recht, ich würde Freddie dieses Buch nicht empfehlen.“
„Er macht mir nicht den Eindruck, dass er außer seinen Schulbüchern große Lust hat, viel zu lesen. Er ist ein sehr lebhafter Knabe“, sagte Jack.
„Ach ja, ich vergaß, dass Sie meinen Sohn kennen.“ Wieso war ihr das entfallen? Sie hatte ihre Ängste um Freddie bekämpft, hatte sich immer wieder gefragt, wie es ihm ergehen mochte, und hier saß der Mann, der ihr Neuigkeiten von ihrem Sohn bringen konnte. „Erzählen Sie mir, wie sieht er aus?“
„Na ja, wie ein quirliger Neunjähriger eben ausschaut, der sich den Magen verdorben hat“, erwiderte Jack. „Ein bisschen grün um die Nase, aber so weit wieder hergestellt, dass er Spaß daran hatte, mir in allen Einzelheiten zu schildern, wie das Pilzgericht aussah, als er es wieder von sich gegeben hatte.“
„Sie bedauernswerter Mann.“ Eva lachte leise. „Der kleine Satansbraten.“
„Er ist eben ein Junge. Ich entsinne mich, dass ich in seinem Alter gleichfalls großen Spaß daran hatte, Erwachsene mit derlei bildhaften Schilderungen zu quälen.“
„Wie groß ist er denn?“, fragte Eva. „Hoffmeister liefert mir zwar regelmäßig genaue Berichte, die fast schon pedantisch sind. ‚Seine Königliche Hoheit macht gute Fortschritte in lateinischen Übersetzungen, Königliche Hoheit brauchte neue Schuhe, Königliche Hoheit hat ein Kätzchen in sein Zimmer geschmuggelt, das ihm wieder weggenommen wurde.‘ Aber seine Rapports geben mir kein anschauliches Bild von Freddie.“
Jack stand auf, hielt sich mit einer Hand an der Lederschlaufe fest, die von der Decke der Kutsche herunterhing, und zeigte mit der anderen bis zu seinen Hüften. „So groß etwa. Pausbäckig
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