HISTORICAL Band 0272
würde die Sache einzig zuspitzen – und die gegenseitige Anziehungskraft zwischen ihnen nur bestätigen.
„Haben Sie Vergleichsmöglichkeiten?“, fragte Jack kühl, das belastende Schweigen unterbrechend.
„Nur Louis’ Überzeugung“, antwortete sie, und dann fasste sie einen Entschluss. Sie konnte das nicht auf sich beruhen lassen. „Ich selbst kann nur einen Kuss anführen. Doch wenn ich genau darüber nachdenke, dann hätte Louis allerdings keinen Grund gehabt, so anmaßend zu sein, was seine Künste betraf. Er küsste nie.“
„Nicht einen Kuss? In all den Jahren?“ Jacks Stimme klang, als stünde er direkt auf der anderen Seite des Wandschirms. Sie könnte hervortreten, um dieses Gespräch von Angesicht zu Angesicht zu führen, aber irgendwie fand Eva, dass es auf diese Weise aufrichtiger klang. „Nicht einen?“
„Nicht einen“, bestätigte sie. „Nicht, als er noch lebte, und auch danach nicht. Bis auf …“
Diesen Worten konnte er entnehmen, so überlegte Eva, sie wäre entweder eine liebeshungrige Witwe, die sich jedem einigermaßen geeigneten Mann an den Hals werfen würde, sobald sie der strengen Aufsicht des großherzoglichen Hofes entronnen war, oder eine gefühlskalte Frau, der ein Mangel an Liebe und Zuwendung einerlei war.
„Der Mann war ein Narr“, erklärte Jack schroff. Erst als sie das Klicken der Tür hörte, wurde ihr klar, dass er das Zimmer verlassen hatte. Eva stand einen Moment reglos, ließ seine knappen Worte in sich nachhallen und horchte auf die Empfindungen hinter seiner Bemerkung. Ihr neuer Freund war an ihrer Stelle wütend. Ihre Augen wurden feucht. Nie hatte jemand Verständnis dafür gezeigt, was es für sie bedeutet hatte, mit Louis verheiratet zu sein. Aber der Mann, den sie soeben unbeabsichtigt mit einer taktlosen Bemerkung gekränkt hatte, brachte ihr Wärme und Mitgefühl entgegen.
„Vielen Dank, Jack“, flüsterte sie in das leere Zimmer.
Eine Frau beim Einkaufen zu begleiten, war eine Erfahrung, die Jack sich keineswegs so unterhaltsam vorgestellt hatte. Wäre seine Schwester Bel mit dem Ansinnen an ihn herangetreten, sie auf einen Bummel durch die Modesalons in London zu begleiten, hätte er ein Nervenfieber und heftige Zahnschmerzen vorgeschützt, um dieser Tortur zu entgehen. Evas Begeisterung darüber, zwanglos durch die Straßen von Grenoble zu flanieren, wirkte jedoch auf ihn ansteckend.
In ihrem zerknitterten Reisekleid und dem staubigen Umhang eilte sie von einem Schaufenster zum nächsten, und Jack folgte ihr wie ein braves Hündchen. „Ich brauche einen Hut“, erklärte sie. „Ohne Hut fühle ich mich nicht angezogen. Welcher gefällt Ihnen besser? Der braune Strohhut mit der breiten Krempe und den Rüschen oder der kleine gelbe mit den Satinbändern?“
„Nehmen Sie beide“, schlug er vor und verdrängte den Gedanken, dass eine mit Hutschachteln beladene Kutsche kein geeignetes Gefährt für eine heimliche Flucht durch ein feindliches Land war.
„Tatsächlich? Darf ich?“ Er schaute immer noch in das Schaufenster, als sie zu ihm aufblickte. Etwas am Anblick seines Spiegelbilds mit der schönen, strahlenden Frau an seiner Seite versetzte ihm einen Faustschlag in die Magengegend. Und was war der Grund? Ein nie gekannter Besitzerstolz erfüllte ihn. Jack fand keine Zeit, diese Empfindung näher zu erforschen, da Eva munter drauflos plauderte.
„Aber vorher sollte ich ein Kleid kaufen, denn zu diesem muss der Hut ja passen.“
„Aha? Macht man das so?“
„Ich denke schon, genau kann ich es aber auch nicht sagen. Wenn ich mir in Maubourg eine neue Garderobe bestelle, wird mir jedes Mal eine Auswahl an Hüten, Schuhen und anderen Accessoires mitgeliefert. In verschiedenen Geschäften einzukaufen, ist für mich einfach.“ Sie zog die Nase kraus, und Jack musste schmunzeln. Diese kindliche Mimik wollte nicht zum Gebaren einer Großherzogin passen.
„Kommen Sie, wir setzen uns über alle höfischen Gepflogenheiten hinweg.“ Er stieß die Tür auf und ließ ihr den Vortritt, während das Glöckchen bimmelte, das die Ladeninhaberin auf die Kundschaft aufmerksam machte. „Und Sie benötigen unbedingt Reitkleidung, falls wir gezwungen sind, unsere Flucht auf Pferden fortzusetzen.“
„Das wäre dann ein Notfall, nicht wahr?“ Eva verharrte an der Tür und sprach leise.
„Ja. Ein paar Meilen nördlich warten gesattelte Pferde auf uns – nur als eine weitere Vorsichtsmaßnahme von mir.“
„Dann sind Reithosen zweifellos
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