HISTORICAL Band 0272
Zeit als Geheimagenten oder Boten des Königs. Er war ein Rätsel, ihr neuer Freund. Freund. Das war das Wort, das ihr ständig im Kopf herumging. Freund. Kein Liebhaber, sosehr sie sich das auch wünschen mochte. Wenn sie noch länger darüber nachdachte, würde sich das in ihrem Gesicht spiegeln. Und Jack Ryder war kein Narr und kannte sich mit Frauen aus, daran gab es keinen Zweifel.
„Wo übernachten wir in Lyon, was ja unsere nächste Station auf dem Weg nach Dijon ist?“ Sie stellte die Frage eigentlich nur, um das Schweigen zu brechen.
„In Presqu’île, dem Geschäftsviertel. Ein gepflegtes Gasthaus, in dem Seidenhändler und andere Kaufleute absteigen. Dort isst man auch ausgezeichnet.“
„Können wir nicht ausgehen?“ Der heutige Ausflug hatte sie auf den Geschmack gebracht, und Lyon war berühmt für seine Seidenmanufakturen. Eva wusste, dass weitere Einkäufe nicht infrage kamen – schon gar nicht mit fremdem Geld –, und außerdem war die Kutsche bereits mit Schachteln angefüllt. Aber sie hätte liebend gern noch mal einen Streifzug durch eine Stadt gemacht. Bei all der drohenden Gefahr versetzte sie die Tatsache, nicht ständig Protokollpflichten einhalten zu müssen, in einen schwindelerregenden Glückszustand.
„Nein. Das wäre zu gefährlich. In Lyon hat Napoleon eine große Anhängerschaft. Im Übrigen weiß Antoine mittlerweile Bescheid, was wir uns angeeignet haben, und er hatte genügend Zeit, eine Vorfolgung zu organisieren. Wenn Sie damit einverstanden sind, möchte ich von Lyon bis Dijon reiten und Henry die Kutsche überlassen.“
„Aber bedeutet das für ihn denn keine Bedrohung“, widersprach Eva. Sie setzte sich wieder aufrecht hin, zog die Schuhe an, als gelte es, sogleich in Aktion zu treten.
„Nichts lenkt den Verdacht auf ihn. Er ist ein einfacher Kutscher, der Geschenke der Schwester seiner Dienstherrin nach Paris befördert. Wir reiten auf Nebenstraßen, und die Zeichnungen befinden sich bei uns.“ Er warf ihr einen Seitenblick zu. „Sind Sie damit einverstanden?“
„Ja.“ Eva nickte entschlossen. Als Louis noch lebte, hatte sie ganze Tage im Sattel verbracht, wenn er Gäste zu einer seiner Jagdgesellschaften geladen hatte, die zuweilen länger als eine Woche dauerten. Allerdings war sie in letzter Zeit nicht mehr viel geritten. Den Gedanken, Jack zur Last zu fallen oder die Reise zu verzögern, ließ sie erst gar nicht aufkommen. Bisher war ihre Flucht ohne größere Hindernisse verlaufen, dank seiner umsichtigen Planung, also hatte auch sie ihren Beitrag zum weiteren Gelingen zu leisten.
Aber selbst ausgeklügelte Pläne können durchkreuzt werden. Eva stand neben Jack im Vorraum des Gasthofs „Belle Alliance“, als der Patron herbeieilte und sich wortreich dafür entschuldigte, dass in der Küche ein Brand ausgebrochen sei. Der Geruch nach verkohltem Holz und kaltem Rauch war ihnen beim Eintreten bereits entgegengeschlagen, aber der Wirt versicherte, dass nur die Küche, nicht die Gästezimmer von dem Feuer betroffen seien.
„Unten am Quai finden Sie kleine Restaurants, wo man exquisit speisen kann, Monsieur“, erklärte der Wirt beflissen wei ter. „Entweder am Ufer der Rhône oder der Saône. Sie müssen nur eine der Traboule s nehmen, das sind die schmalen Passagen, die …“
„Ich kenne die Traboules“, unterbrach Jack ihn. „Gut, dann speisen wir auswärts, solange es noch hell ist. Ich möchte nicht, dass meine Gemahlin sich nach Einbruch der Dunkelheit in den Straßen einer fremden Stadt aufhält. Henri?“ Er wies auf das Gepäck. „Kümmern Sie sich darum, dass unsere Koffer aufs Zimmer gebracht werden.“
Der Diener nickte. „Sehr wohl. Ich esse da drüben.“ Auf der anderen Straßenseite des „Belle Alliance“ befand sich ein ziemlich ungepflegtes einfaches Esslokal. „Von dort habe ich auch einen guten Überblick.“ Eva verstand die stumme Botschaft zwischen den beiden Männern, eine Mischung aus Warnung und Ermutigung. Hatte Jack den Verdacht, das Feuer könne absichtlich gelegt worden sein?
Auf dem Weg durch eine der malerischen Passagen, die durch Innenhöfe mit Galerien führte und gelegentlich von Spitzbögen überwölbt war, stellte sie ihm diese Frage. Sie wäre gern ein wenig länger in diesen Durchgängen geblieben, um sich in den Werkstätten der Seidenweber genauer umzuschauen und die Frauen zu beobachten, die vor den Haustüren auf grob gezimmerten Stühlen mit Handarbeiten auf dem Schoß saßen und miteinander
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