HISTORICAL Band 0272
sie auf den ersten Angreifer. Mit dem linken Arm schob er Eva hinter sich.
Er verhielt sich so, wie sie es geahnt hatte: Er würde sie beschützen, und wenn er dabei sein eigenes Leben aufs Spiel setzte – und davon war er nicht weit entfernt. Eva drängte sich hinter ihn, dann weiter in einen schmalen Durchlass zu ihrer Rechten. Das kleine Messer hielt sie in den Falten ihres Rockes verborgen. Ihr Blick fiel auf das Retikül, das trotz des Laufens immer noch an ihrem Handgelenk hing. Geistesgegenwärtig schwenkte sie es in der Luft. „Ist es das, wonach Sie suchen, Colonel? Die Pläne? Die Notizbücher. Oder wissen Sie noch gar nicht, was wir an uns genommen haben? Was wir herausgefunden haben und von wem wir die Geheimnisse erfahren haben?“
„Eva!“ Jack warf sich auf sie, aber sie hatte erreichte, was von ihr beabsichtigt war: Sie hatte die Angreifer getrennt. De Presteigne brüllte: „Ducrois, zu mir! Foix, brechen Sie ihm das Genick!“ Danach stürzte er sich auf Eva. Sie wirbelte herum und rannte so schnell sie konnte davon, angespornt vom verzweifelten Wunsch, Jack eine Überlebenschance zu geben. Auf einmal krachte ein Pistolenschuss. Aus Jacks Waffe – oder der eines der Schergen? Sie erreichte den Quai. Um welchen Fluss handelte es sich hier eigentlich? Es war unwichtig. Boote würden an jedem Ufer liegen.
Der Quai war rutschig. Sie achtete darauf, nicht über Taue zu stolpern, gleichzeitig hielt sie Ausschau nach einem Boot, dem Colonel und den Soldaten. De Presteigne hatte sie entdeckt und nahm wieder die Verfolgung auf wie eine lauernde Katze, die sich an einen Vogel heranschlich.
„Bleiben Sie stehen! Wo zur Hölle wollen Sie eigentlich hin? Sie entkommen mir nicht“, rief der Colonel gereizt.
„Sie fahren jedenfalls zur Hölle“, entgegnete Eva. „Das ist der richtige Platz für Verräter und schäbige Wendehälse.“ Sie riskierte einen Blick zum Fluss. Die dunklen Wogen schienen weit unter ihr zu glänzen, doch nirgendwo war ein Ruderboot in Sicht. Wo war Jack ? Aus der Richtung des Innenhofs drang ein Schrei. Der Soldat, der de Presteigne begleitete, drehte sich erschrocken um und blieb stehen.
„Vorwärts!“, schrie de Presteigne. „Pack sie!“
Der Mann, der jetzt auf sie losstürmte, musste aufgehalten werden. Eva hielt ihm ihr Küchenmesser entgegen. Für diese minimale Wehrhaftigkeit hatte er nur ein Grinsen übrig. Doch sie stieß mit aller Kraft zu. Der Soldat ging in Deckung, rutschte aber auf den feuchten Steinen aus und stürzte mit einem lauten Schrei kopfüber in den Fluss. „Colonel?“ Eva schaute ihren Widersacher herausfordernd an. Das inzwischen angezündete Licht der Laternen vor den Lagerschuppen ließ ihre Klinge aufblitzen.
Der Offizier zog eine Pistole. „Es ist vorbei. Ergeben Sie sich – oder ich schieße. Und anschließend töte ich Ihren Liebhaber, wenn er nicht schon in seinem Blut liegt.“
Eva streckte die Hand, an der ihr Retikül hing, über dem Wasser aus und bemühte sich, ihr Zittern zu unterdrücken. Ihr Handbeutel, dank eines Buches, das sie geistesgegenwärtig eingesteckt hatte, sah überzeugend schwer aus und baumelte nun von ihren Fingern. „Wenn Sie mich erschießen, sind diese Dokumente für immer verloren.“
Er zuckte mit den Achseln. „Na und? Dann liegen sie eben auf dem Grund des Flusses.“ Er trat einen Schritt näher. „Nun kommen Sie schon. Seien Sie vernünftig. Ich bringe Sie zu Prinz Antoine zurück.“ Evas Gedanken rasten, sie wusste nicht, was sie tun sollte. Lass das Retikül fallen, redete sie sich selbst gut zu, dann wird er die Verfolgung aufgeben. Wo ist nur Jack?
In diesem Moment stürmte er aus der Gasse. Sie konnte auch aus dieser Entfernung den mörderischen Zorn erkennen, der in ihm war. Seine angespannte Körperhaltung, als er in ihre Richtung stürmte, sprach eine deutliche Sprache. Außerdem hatte er die Pistole in seiner Hand auf den Colonel gerichtet. In einem Augenblick, in dem sie nicht aufgepasst hatte, packte de Presteigne sie beim Arm, zerrte sie zu sich und hielt ihr seine Waffe an die Brust. „Stehen bleiben!“, rief er. „Auf der Stelle! Oder ich töte sie … Aua!“
Eva hatte in die Hand, die sie festhielt, gebissen. Er stieß sie von sich und hatte Mühe, das Gleichgewicht zu halten. Sie selbst war zwar frei, wankte aber am Rand der Quaimauer. Letztlich war die Wucht des Stoßes zu stark, und sie spürte, wie sie den Halt verlor und in die Tiefe stürzte. Wieder krachte ein
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