HISTORICAL Band 0272
dass der feine Herr mindestens zwei Stunden darauf verwendet, sich korrekt zu kleiden.“
12. KAPITEL
Anfangs fühlte sie eine große Verlegenheit über ihre unpassende Wortwahl, bis ihr Sinn für Humor die Oberhand gewann. Ein zögerndes Lächeln umspielte Evas Lippen. „Vielleicht bin ich ein wenig aus der Übung im Umgang mit der englischen Sprache“, gestand sie. „Vielen Dank, Jack. Wie Sie freundlicherweise annahmen, hatte ich die Schwierigkeiten gemeint, mich als Mann zu verkleiden. Und Sie“, fügte sie mit mildem Tadel an Henry gewandt hinzu, „haben eine schmutzige Fantasie.“
„Ich? Also, das ist ungerecht, Ma’am. Vor einer Minute habe ich dem Meister gerade einen Vortrag über richtiges Benehmen gehalten.“
„So, so.“ Sie reichte Jack das Halstuch, das wie eine Krawatte gebunden werden sollte. „Helfen Sie mir?“
„Man macht eine Schlaufe, schlingt dann dieses Ende durch jenes, und dann … Zum Teufel ich kann es nicht erklären. Setzen Sie sich bitte auf diesen Stuhl.“ Eva folgte seiner Aufforderung ohne Wiederstand, und Jack stellte sich anschließend hinter sie und nahm die Enden des Halstuchs in beide Hände. Sie spürte die Wärme seines Körpers, aber auch seine Spannung, die dadurch entstand, dass er sich bemühte, ihr nicht zu nahe zu kommen. „Jetzt ziehen Sie ein Ende durch die Schlaufe, falten den Stoff auseinander und stecken das andere Ende noch einmal durch die Schlaufe … lassen Sie mal sehen!“ Er umrundete den Stuhl und betrachtete sein Werk mit schräg geneigtem Kopf. „Gar nicht mal übel.“
„Danke“, antwortete Eva scheu. Jack ist irgendwie anders, stellte sie wehmütig fest. Er war guter Dinge und hilfsbereit, aber seine Stimme klang reserviert, und sein Blick war undurchdringlich, wenn sie es überhaupt schaffte, ihm direkt in die Augen zu sehen.
Das, was gestern Abend zwischen ihnen vorgefallen war, beunruhigte ihn offenbar. Sie hätten beinahe – ja, was? Sich geliebt? Allerdings hatte er keine Anstalten gemacht, sie zu streicheln oder sie zu verführen. Er hatte sie nur in den Armen gehalten. Wenn er wüsste, dass diese kleine Geste der Zärtlichkeit sie zutiefst erregt hatte, wäre er wohl überrascht. Er schien sich seiner Wirkung auf Frauen, die auch nur ein Fünkchen Interesse am anderen Geschlecht hatten, gar nicht bewusst zu sein.
Sie hörte nur mit halbem Ohr zu, als Jack erklärte, er halte es für besser, wenn sie sich nicht in Männerkleidern öffentlich zeigen würde. Es sei gut möglich, dass die Dienstboten über ihre Kleidung Auskunft geben würden, sollte man sie später nach den einzelnen Gästen befragen. Also zog sie sich hinter den Wandschirm zurück, während die Mägde den Tisch deckten und das Frühstück brachten. Es war anzunehmen, so versuchte sie sich weiter sein distanziertes Verhalten zu erklären, dass er gegen sein eigenes Verlangen ankämpfte. Zudem hatte sie zu viel Erfahrung mit instinktgesteuerten männlichen Reaktionen auf eine halbwegs attraktive Frau gemacht, um sich durch eine kleine liebevolle Geste geschmeichelt zu fühlen. Dennoch konnte sie sich nicht erklären, wieso ihr Verlangen nach ihm stetig zu wachsen schien.
Eva spürte, wie alles, worauf sie sich in ihrem bisherigen Leben bezogen, all die Grenzen, die sie sich durch bestimmte Regeln gesetzt hatte, ins Wanken geriet. Eine große Beklommenheit machte sich in ihr breit, ihr war, als werde ihr der Boden unter den Füßen langsam entzogen, ohne dass sie erkennbare Risse darin wahrgenommen hätte. War sie lediglich zu willensschwach, um der Versuchung zu widerstehen? Oder hatten sich ihre Wertvorstellungen geändert?
„Sie können sich wieder zeigen“, rief Jack. Sie trat stirnrunzelnd aus ihrem Versteck.
„Was ist?“ Jack hob die Hand, als wolle er ihre Stirnfalten glätten, besann sich jedoch im letzten Moment und rückte ihr den Stuhl zurecht. „Sind Sie sehr müde nach den gestrigen Strapazen?“
„Nun ja, ich fühle mich ein wenig steif, weiter nichts. Ich musste nur über etwas nachdenken, vielleicht spreche ich später mit Ihnen darüber.“ Später, wenn sie sich darüber klar geworden war, ob sie nur körperlich erschöpft und von den sich überstürzenden Ereignissen überfordert war – oder ob sie tatsächlich über ihr Leben nachdenken und etwaige Veränderungen vornehmen sollte. „Wo sind die Pferde?“
„In einem Mietstall außerhalb der Stadt. Bis dahin reisen wir in der Kutsche, danach wird Henry weiter auf der Poststraße
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