HISTORICAL Band 0272
Strecken zurücklegen. Vorsichtshalber habe ich noch dieses zweites Pferd mitgenommen.“ Er grinste plötzlich unverfroren. „Eine sanfte, zierliche Stute.“
„Soll ich in einem Lehnstuhl reiten?“, entgegnete Eva aufbrausend. „Gott behüte!“ Dennoch hatte sie leichte Bedenken. Da sie ziemlich aus der Übung war, wusste sie nicht, ob sie es schaffen würde, und keinesfalls wollte sie Jack aufhalten. Dessen hohe Erwartungen bestärkten sie jedoch in ihrem Vorsatz, ihn nicht zu enttäuschen, gaben ihr Mut und besiegten ihre Zweifel. Und sie wollte ihn auf die Probe stellen. „Was hat Sie davon überzeugt, dass ich den Wallach reiten kann?“
„Sie haben Mumm, Entschlusskraft, und Sie besitzen eine gewisse körperliche Kraft“, antwortete er, während er sein Pferd auf einen Pfad lenkte, der von der Poststraße wegführte. Eva schaute ihm verdutzt hinterher. „Kommen Sie.“ Jack drehte sich im Sattel um. „Glauben Sie mir etwa nicht? Habe ich Ihnen je geschmeichelt? War ich schon mal unaufrichtig mit Ihnen?“
„Nie.“ Eva setzte ihren Wallach mit einem Schenkeldruck in Bewegung und trabte neben Jack her. „Hoffe ich zumindest. Danke.“
„Sparen Sie sich Ihren Dank für später auf. Vielleicht steht Ihnen der Sinn nicht mehr danach, wenn Ihre Muskelschmerzen Sie daran erinnern, dass Sie seit Monaten nicht …“
„Seit Jahren“, verbesserte sie ihn kleinlaut.
„Dann eben seit Jahren. Wenn Ihnen Ihr Gesäß und Ihre Schultern so weh tun, dass Sie kaum noch gehen können, werden Sie mich vermutlich zur Hölle wünschen.“
„Das glaube ich kaum. Ich denke einfach an ein wohltuendes heißes Bad“, entgegnete Eva ohne nachzudenken und errötete bis über beide Ohren in Erinnerung an das gemeinsame Badevergnügen.
Jack war ihr nun bereits voraus, war einen Hügel hinaufgeritten. „Damit würde ich in nächster Zeit nicht rechnen“ – dies glaubte sie noch vernommen zu haben. Aber sie hatte sich wohl verhört, in jeder Herberge war eine Sitzwanne aufzutreiben.
Jack legte ein gleichmäßig rasches Tempo vor, es ging querfeldein, vorbei an kleinen Weihern, durch lichte Wälder, sie kamen an bestellten Feldern am Ufer eines Flusses vorbei. Nach längerem Trab ritt er im Schritt, um die Pferde zu schonen, um dann aber bald darauf wieder eine schnellere Gangart anzuschlagen. Hin und wieder zog er einen Kompass hervor, warf einen prüfenden Blick auf den Sonnenstand, oder er machte Halt, um Eintragungen in einem schwarzen Notizheft zu studieren. Zur Mittagszeit rasteten sie eine halbe Stunde und aßen von ihrem Proviant. Jack tränkte die Pferde, und danach führten sie die Tiere eine halbe Stunde am Zügel, bevor sie wieder aufsaßen.
Sie sprachen wenig, Eva spürte nur gelegentlich seinen Blick auf sich ruhen. Etwas Seltsames ging in ihr vor, während die üppige Frühsommerlandschaft sich vor ihr ausbreitete und eine Schar Wildenten erschrocken aufflog, als sie an einen See anlangten. Kühe hoben zugleich auf satten Weiden die Köpfe und schauten den Reitern mit ihren großen gutmütigen Augen nach. Die frische Luft weitete Eva die Brust, der Windz errte an ihrem Haar. Ihr war, als sei ihr ein schwerer unbequemer Mantel von den Schultern genommen, der sie in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt hatte. Sie fühlte sich beschwingt und erleichtert. Die Wirklichkeit beschränkte sich auf die friedvolle Landschaft, die sie umgab, auf die Wärme des Pferdes unter ihren Schenkeln und die Nähe ihres Begleiters.
Allmählich begann ihr Selbstvertrauen zu wachsen, sie fühlte eine innere Ruhe. Sie war nicht das junge Mädchen, das als scheue und staunende Braut England verlassen hatte, auch nicht die Großherzogin, die ständig die Last der Verantwortung fühlte. Nein, sie war sie selbst, Eva, eine ganz normale Frau. Jahrelang hatte sie die Welt betrachtet wie hinter einer Maske, und mit der Zeit hatte sie diese als ihre eigene Persönlichkeit angenommen.
Sie kam sich fast wie eine weise Frau vor, die fast mit dem Leben abgeschlossen hatte. Nein, auch das stimmte nicht. Im selben Augenblick folgte sie nämlich Jacks Beispiel, setzte über eine niedrige Umzäunung und stieß einen Freudenschrei aus, als sie für einen kurzen Moment in der Luft schwebte. Ich bin Mutter, dachte sie nun, Witwe und Herzogin. Das sind wichtige Rollen, aber sie sind nicht alles, was ich bin. Ja, ich bin Freddies Mutter, aber zugleich eine eigenständige Frau. Ich! Eva, die ein Abenteuer erlebt. Gestern Nacht wäre ich
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