HISTORICAL Band 0272
beinahe ertrunken – und heute fühle ich mich lebendiger als je zuvor in meinem Leben.
Jack zügelte sein Pferd und wies mit dem Arm nach oben. Sie hob den Kopf und sah zwei Habichte, die sich am strahlend blauen Himmel von den Aufwinden in weiten Kreisen tragen ließen. Frei. Sie war frei wie diese Vögel. Was wünschte sie sich eigentlich? Was war ihr wichtig, tief in ihrem Innern, unabhängig von ihren Pflichten? Würde sie nicht gern einfach nur eine Frau sein?
Bei all ihrer Begeisterung, durch die liebliche Landschaft zu reiten, begann sie allmählich müde zu werden und sehnte sich nach einer Rast in einem Gasthaus. Als die Sonne tief über den Hügeln des Beaujolais im Westen stand, zügelte Jack seinen Rappen. „Für heute reicht es. Ich will nicht bis Châlon oder sogar noch weiter darüber hinaus reiten.“
„Was? Wo?“ Eva stellte sich in die Steigbügel und hielt Ausschau nach einem Gasthaus, das sie sich so sehnlichst herbeisehnte. Nirgendwo ein Haus, ein Gehöft, geschweige denn eine einladende Herberge. „Reiten wir zur Poststraße zurück?“
Jack begegnete ihrem fragenden Blick mit einer Miene, die jedes männliche Wesen aufsetzte, vom kleinen Jungen bis zum Boten des Königs, wenn man schuldbewusst ein Geheimnis verbarg. Er bemühte sich, ein harmloses Gesicht zu machen – was ihm kläglich misslang.
„Nun?“, fragte sie leicht unwirsch.
„Wir übernachten im Freien“, gestand er jetzt ehrlich.
„Hier draußen? Und was ist mit meinem Bad?“ Plötzlich spürte sie ihr wund gerittenes Hinterteil, jede schmerzende Faser ihres verspannten Rückens, und fürchtete plötzlich, nicht einmal mehr die Kraft zu haben, vom Pferd zu steigen.
„Ich habe Sie gewarnt. Schauen Sie nur, da drüben ist ein hübsches Wäldchen und ein Bach.“
Hübsches Wäldchen, wahrhaftig, dachte Eva ungehalten. Sie begehrte ein heißes Bad, eine warme Mahlzeit und ein weiches Bett. Ihr fehlte ihr Majordomus, sie vermisste ihre Zofen und Lakaien, ihren Schweizer Koch. Sie saß mit hängenden Schultern auf ihrem erschöpften Wallach, streichelte ihm zerstreut den Hals und beobachtete Jack, der sich aus dem Sattel geschwungen hatte und die Lichtung erkundete.
Bei näherer Betrachtung war es tatsächlich ein hübsches Fleckchen Erde. Die Blätter der Bäume raschelten im Abendwind, das Gras war weich und grün, der Bach plätscherte über glänzende und glatt geschliffene Steine. Und mitten in dieser Idylle stand der Mann, der seinen Hut von sich warf und sich ungeniert streckte. Danach befreite er sich von seinem Reitrock, schmiss ihn neben die Kopfbedeckung, drehte sich um und lächelte sie an. Und Eva erwiderte sein Lächeln, ihre schmerzenden Knochen, ihre schlechte Laune, ihr hungriger Magen waren vergessen. Es lag an ihm, dass sie sich so frei fühlte – wie neugeboren. Und sie musste eine Entscheidung treffen, wie sie damit umgehen wollte.
„Es ist hübsch hier“, rief sie ihm zu. Hatte er erwartet, dass sie sich sträuben und ihm eine Szene machen würde? „Ich fürchte jedoch, dass ich alleine nicht aus dem Sattel komme. Sie werden mir helfen müssen.“
Dies war nicht die ganze Wahrheit, vielmehr auch eine weibliche List, um seine Hände um ihre Taille zu spüren. Gemächlich schlenderte Jack zu ihrem Pferd. „Schwingen Sie ein Bein über den Sattelknauf, und lassen Sie sich zu Boden gleiten“, schlug er vor.
„Ich kann kaum einen Fuß heben, geschweige denn das Bein schwingen“, scherzte sie. Doch sie nahm den Fuß aus dem Steigbügel und hob mühsam das Bein über den Sattel. Das Pferd wurde unruhig, wollte zur Tränke und zum frischen Gras und begann nervös zu tänzeln. Eva rutschte daher nicht sonderlich elegant in Jacks Arme.
Er hielt sie einen Moment an sich gedrückt, bevor er sie zu Boden gleiten ließ. Sie hielt die Luft an, und als ihre Füße auf der Erde standen, atmete sie wieder und sah ihn an.
Seine Miene war undurchdringlich. Jack löste die Hände von ihr und trat einen Schritt zurück. „Ich sammle Brennholz. Können Sie die Pferde zum Bach führen?“
„Ja, natürlich.“ Noch war der Zugang zu ihm fest verschlossen. Wenn sie ihn erobern wollte, musste sie sehr deutlich werden, durfte sich nicht auf Andeutungen oder Koketterie verlassen. Eva nahm den Reitpferden die Sättel ab, führte sie zu dem kleinen Fluss und band sie an der langen Führleine an einem Baum fest. Das Packpferd stand geduldig herum und wartete ab, bis sie die Lederriemen gelöst hatte. Aber bald
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