HISTORICAL Band 0272
trocken werden, Wonneschauer durchrieselten sie, und sie spürte mit einiger Beklommenheit, wie ihre Brustspitzen sich gegen die enge Weste drängten.
„Noch eine Nacht“, ergänzte sie leichthin. Noch eine Nacht und einen Tag – das war eine sehr kurze Zeitspanne. Aber bislang gehörte er ihr, ihr ganz allein. Eine weitere Erinnerung, von der sie später zehren konnte.
„Ja, noch eine Nacht bis Brüssel und bis zur Überfahrt nach England.“ Jack verstummte, während die Bedienung Brot und einen Krug Wasser brachte. Als sie wieder gegangen war, legte er seine sehnige Hand über die zierliche von Eva und drückte sie zuversichtlich. „Fréderic wird außer sich sein vor Freude, dich wiederzusehen.“
„Falls er sich überhaupt noch an mich erinnert“, entgegnete Eva mit leiser Wehmut. Dieser Abend schien all ihre Besorgnisse aufzuwühlen.
„Natürlich erinnert er sich!“ Jack hob ihre Hand, drückte einen Kuss auf ihre Finger und erntete damit ein melancholisches Lächeln einer üppigen Bürgersfrau, die am Nebentisch im Kreise ihrer Familie saß. „Das ließ er mich wissen – nicht in vielen Worten, aber in der Art, wie er von dir und von Maubourg sprach. Er weiß, dass du darunter gelitten hast, ihn nicht aufwachsen zu sehen, weil man dich zwang, ihn in die Obhut fremder Menschen zu geben.“
„Ich danke dir.“ Eva blinzelte heftig die Tränen zurück und lehnte einen flüchtigen Moment ihre Wange an seine Hand. Er lächelte ihr zu. Dann bemerkte sie, wie sein Blick sich auf einen Punkt hinter ihrer Schulter richtete und die Lachfältchen um seine Augen sich vertieften. „Und mit wem flirtest du, wenn ich fragen darf?“
„Die Dame hinter dir ist offenbar der Meinung, wir geben ein hübsches Paar ab.“
„Wie recht sie hat“, sagte Eva schmunzelnd. „Schau mal in den Spiegel zu deiner Rechten, dann kannst du dich davon überzeugen.“ Jack wandte den Blick. An der Wand hing ein Spiegel, der aus einem vornehmen Haus stammte und wohl während der Plünderungen, die in den Zeiten der Revolution stattgefunden hatten, irgendwie hierhergelangt war. Er war viel zu kostbar, um in einen einfachen Landgasthof zu passen.
Aus dem kunstvoll geschnitzten Barockrahmen blickte sie ein Liebespaar an, Wange an Wange, die Hände ineinander verschlungen. Eva wirkte entzückend weiblich in der strengen Männerkleidung, und ihr dunkler Zopf hing schwer über ihre Schulter. Er selbst, ja, wie sah er selbst aus? Jack stutzte. Er war es wirklich, daran gab es keinen Zweifel, aber irgendwie war ihm sein Spiegelbild fremd. Er wirkte jünger und – er suchte nach dem treffenden Wort – dennoch gereifter. Welch ein Unsinn. Es lag gewiss an dem alten Glas und dem Goldrahmen, der jedem Betrachter schmeicheln würde. Aber Henry hatte deutlich zu verstehen gegeben, er habe sich verändert. Und tatsächlich fühlte er sich auch anders.
Jack blickte forschend in seine eigenen Augen, in die eines liebenden Mannes. Zur Hölle! Jack kniff die Lider zu, um das verräterische Bild nicht länger sehen zu müssen. Er wandte sich jäh ab – und ließ Evas Hand los. Nein, er konnte es nicht zulassen. Es war verboten, sie zu lieben. Dies würde ihm nur Unglück und Leid bringen.
Das Dumme an der Sache war nur, dass es dafür zu spät war. Die Ruhe, die tiefe Zufriedenheit, dieses Gefühl der Vollständigkeit, das sich in sein Verlangen nach Eva mischte, dieser Stich ins Herz, der ihn jedes Mal durchbohrte, wenn er daran dachte, sie verlassen zu müssen – all das hatte er nie zuvor verspürt.
Das Stimmengewirr der Gäste, die Geräusche in der Gaststube verebbten, während er wie gelähmt dasaß. Er hatte sich verliebt, dabei hatte er sich geschworen, dass ihm so etwas nie passieren würde. Zu allem Unglück hatte er sich in eine Frau verliebt, die für ihn so unerreichbar war wie der Mond, eine Frau im Rang einer königlichen Prinzessin. Er bemühte sich, nicht die Beherrschung zu verlieren, dennoch musste er es aussprechen, hier, jetzt, augenblicklich.
„Jack? Was ist mit dir?“ Eva sah ihn erschrocken an. Wieso schaute er sie so an, halb belustigt, halb besorgt?
„Nichts.“ Dabei geht es um alles, dachte er, um mein Herz, meine Welt, meine Seele, mein Leben . „Jedenfalls ist es nichts Wichtiges, nur ein Gedanke, der mir durch den Sinn schoss. Das Hühnchen schmeckt köstlich, nicht wahr?“
„Es ist Schweinebraten.“ Sie lachte, während er Messer und Gabel umklammerte, um sich daran zu hindern, Eva vor allen
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