HISTORICAL BAND 295
innerlich auf Abstand ging.
„Was ist los, Elgiva?“
„Gar nichts“, sagte sie. „Jedenfalls nichts, was sich ändern ließe.“
„Trauer geht nie schnell vorüber“, räumte er ein. „Und man kann sich auch nicht aussuchen, wann die Trauer endet.“
Elgiva warf ihm einen forschenden Blick zu. Was wusste er schon über Trauer und Verlust? Das waren Dinge, die Wikinger anderen Menschen zufügten. Schweigend setzte sie ihren Weg fort.
„Aber das Leben geht weiter“, ergänzte er. „Und die Lebenden müssen lernen, mit ihren Verlusten zu leben.“
„Ich kann nicht vergessen.“
„Du sollst auch nicht vergessen, aber du kannst nach vorn schauen. Was nützt es, immer nur der Vergangenheit nachzutrauern?“
„Ihr wollt nur das Gute sehen.“
„Nein, ich sehe die Dinge so, wie sie sind.“
„Euer Volk ist schuld daran, dass für uns die Dinge jetzt so sind, wie sie sind“, erwiderte Elgiva.
Ihr Tonfall hatte etwas ungewohnt Verbittertes, und er musterte sie aufmerksam. „In deinem Herzen fühlst du noch immer Zorn, nicht wahr?“
„Ja.“
„Mir würde es auch so ergehen, aber dem Schicksal kann man nicht entrinnen.“
„Es war nicht das Schicksal, das die Nordmänner zu uns gebracht hat“, konterte sie. „Es waren Rachedurst und Habgier.“ Sie drehte sich zu ihm um. „Das ist alles, wozu die Dänen fähig sind, nicht wahr? Zu töten, zu zerstören und anderen Gewalt anzutun.“
Wulfrum hielt ihrem aufgebrachten Blick stand. „Das ist Vergangenheit.“
„Tatsächlich? Ich glaube, die Erinnerung daran wird nicht so schnell verblassen.“
„Nein, ganz sicher nicht.“
„Was wisst Ihr schon davon?“
Für einen winzigen Moment sah sie Schmerz und Zorn in seinen blauen Augen. „Das musste ich schon früh feststellen.“
„Und wie?“
„Eines Nachts kamen die Feinde meines Vaters zu seinem Hof, legten Feuer und warteten, bis die Menschen aus dem Haus flüchteten. Jeder, der herauskam, wurde niedergemetzelt. Niemand entkam.“
„Aber Ihr …“
„Ich war nicht dort. Ich war mit einem der Männer zu einem benachbarten Hof unterwegs, um im Namen meines Vaters etwas abzuliefern. Es war Winter, die Tage waren kurz, also verbrachten wir dort die Nacht. Als wir am nächsten Tag zurückkehrten, fanden wir unseren Hof in Schutt und Asche vor und meine gesamte Familie ermordet.“
Elgiva hatte von solchen Geschehnissen schon gehört, aber noch nie war sie jemandem begegnet, der so etwas selbst erlebt hatte. Sie fühlte Mitleid mit dem verängstigten Jungen, der er an jenem fürchterlichen Tag gewesen sein musste.
„Wie alt wart Ihr?“
„Zehn.“
„Zu jung, um sich in der Welt alleine durchzuschlagen.“
„Ja, aber ich hatte Glück.“
Dann fiel ihr ein, was er an dem Morgen zu ihr gesagt hatte, als sie sein Schwert Drachenzahn begutachtet hatte. „Ragnar nahm Euch bei sich auf, richtig?“
„Ja. Mein Vater war einer seiner engsten Freunde gewesen. Er nahm mich bei sich auf und zog mich groß. Von ihm lernte ich alles über das Leben als Krieger. Genau genommen lernte ich von ihm alles, was ich weiß. Als ich zum Mann herangewachsen war, rächte ich meine Familie und tötete diejenigen, die für das Morden verantwortlich gewesen waren. Ich tötete sie mit dem Schwert, das Ragnar mir gegeben hatte. Dann holte ich mir den Titel zurück, der mir gehörte.“
„Und als Ragnar getötet wurde, habt Ihr beschlossen, auch ihn zu rächen.“
„Richtig. Es war für mich eine Frage der Ehre.“
Während sie ihm zuhörte, wurden ihr einige Dinge klar. Vor ihrem geistigen Auge sah sie den kleinen Jungen vor den Ruinen seines Elternhauses stehen, um ihn herum die Leichen seiner Angehörigen. Sie konnte sich vorstellen, wie er vom Jungen zum Mann wurde, wie er den Umgang mit dem Schwert lernte, wie er sich das Geschick eines großen Kriegers aneignete, wie sein Zorn zu etwas Kaltem, Unstillbarem wurde, wie er nur darauf wartete, endlich Rache zu üben. Sie verstand, wieso er solche Loyalität dem Mann gegenüber empfand, der der Erzfeind ihres eigenen Volks gewesen war.
Wulfrum sah sie an und fragte sich insgeheim, warum er ihr das alles erzählt hatte. Es war nicht seine Absicht gewesen, doch aus einem unerfindlichen Grund hatte er die Worte nicht zurückhalten können. Vielleicht war es einfach nötig gewesen. Jetzt wusste sie zumindest, wer er war und welche Ereignisse ihn geprägt hatten.
„Ich habe genug vom Blutvergießen und vom Kämpfen, Elgiva.“
„Und was wollt Ihr
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