Historical Band 298
war. Er hatte Little John hierher gebracht. Er war für den Jungen, nein, für das Mädchen verantwortlich. Wurde sie entdeckt, wäre nicht nur sie in Gefahr. Er würde sämtliches Ansehen verlieren, das er sich über sieben Jahre hinweg erarbeitet hatte. Die Studentenherberge, seine Privilegien, alles ginge zum Teufel.
Sie musste fort. Augenblicklich. Er unterdrückte ein plötzlich aufsteigendes Bedauern.
„Du sagtest, du hättest keine Familie. War das auch eine Lüge?“
Sie zögerte. „Ich habe eine Schwester.“
Gut. Es gab also einen Ort, wo er sie hinbringen konnte. „Und du bist auch nicht fünfzehn, oder?“
Sie schüttelte den Kopf. „Siebzehn.“
„Gab es überhaupt etwas, worüber du mir die Wahrheit gesagt hast?“ Die Angst schnürte ihm die Kehle zu. John, den er wie einen kleinen Bruder behandelt hatte. John, dem er Sachen erzählt hatte, die er keinem anderen Mann erzählen würde.
Und schon gar keiner Frau.
„Dass ich studieren will.“ Sie suchte seinen Blick. „Dass ich Euch ein treuer Freund sein will.“
Freund. Ein zu unbedeutendes Wort für das, was sie verband. Gib dein Wort nicht leichtfertig, Junge , hatte er sie gewarnt. „Ich habe dir Dinge erzählt, die niemand sonst wissen darf, weder Mann noch Frau. Und du erzähltest mir Lügen.“
„Nur über meine Identität. Über alles andere nicht.“
„Nur? Wer ein Mann ist, ist alles. Aber du bist ja kein Mann, nicht wahr? Du kannst das nicht wissen.“
Um seine Wut abzureagieren, ging jetzt er auf und ab. Was brachte eine Frau dazu, so zu handeln? War sie etwa besessen? „Deine Schwester, deine Familie, haben sie dich geschlagen?“ Das wäre immerhin eine Erklärung. Er würde sie nicht zu Leuten zurückbringen, die sie schlugen.
Schließlich hatte er selbst genug Schläge eingesteckt.
„Nein! Niemals!“ Der Gedanke schien sie zu überraschen. „Aber sie wollten – sie erwarteten, dass ich wie andere Frauen bin, und das bin ich nicht. Es misslang mir jeden Tag.“
Er bemerkte den aufblitzenden Zorn in ihren Augen. Er wusste nur zu gut, wie es war, wenn man sich einer Welt anzupassen versuchte, die nicht die eigene war.
„Hast du dir je gewünscht, etwas oder jemand zu sein, der du unmöglich sein kannst?“ , hatte er sie gefragt.
Ja , hatte sie geantwortet.
Er packte sie an den Schultern. Gerne hätte er sie geschüttelt, bis sie zu Verstand kam. „Du glaubst, ein Mann hat keine Ängste? Du glaubst, ein Mann muss sich keine Sorgen machen wegen eines anderen, der größer und stärker ist?“
„Aber nicht deswegen, weil er ein Mann ist.“
„Dann weißt du nichts über das Herz eines Mannes. Hör zu, John, oder wer immer du bist. Wenn du etwas im Zusammenleben mit uns gelernt haben solltest, dann, dass auch Männer mit Erwartungen leben müssen.“
Sie biss sich auf die Lippen und schaute zur Seite.
Jetzt schüttelte er sie wirklich. „Hast du das verstanden?“
Als sie ihn ansah, loderte immer noch das Feuer in ihren Augen. Sie nickte.
Wo er sie berührte, schienen seine Hände zu glühen. „Und eines der vielen Dinge, die ein Man nie, niemals tun darf, ist, sich von einem anderen Mann angezogen zu fühlen.“
Er nahm rasch die Hände von ihr. Unfähig, ihr noch länger in die Augen zu schauen, stand er einfach nur da.
„Aber das wart Ihr ja gar nicht!“ Das war Little John, wie er ihn kannte. Überzeugt davon, dass ihr alles vergeben würde. Vermutlich war ihr auch stets alles vergeben worden, ihr ganzes Leben lang. Nein, ihre Familie hatte sie nicht misshandelt. Eher hatte sie sie mit ihrer Fürsorge erstickt. „Das ist vorbei. Ihr … wir … Ich bin eine Frau.“
„Vorbei? Dachtest du, ich wäre ein solcher Narr, dass ich es nicht bemerken würde?“ Hatte er auch nicht. Aber jetzt, da er es wusste, spürte er, wie das Verlangen in ihm erwachte und jeden klaren Gedanken unmöglich machte. „Wie lange glaubtest du, so leben zu können?“
„Für immer!“ Sie schrie die Worte geradezu.
Schweigen. Verblüfft sah er sie an.
Und dann begann sie zu weinen, krümmte sich heftig und schluchzte hemmungslos vor Kummer. „Ich dachte …“, nur mühsam brachte sie die Worte heraus, „… ich könnte immer so weitermachen.“
Ihm brach fast das Herz.
Ja, sie hatte seine Welt auf den Kopf gestellt, aber niemand wusste von seinem Schmerz. Sein Leben gehörte ihm immer noch. Trotz des Kampfes, der in seiner Seele tobte, würden seine Tage ganz normal weitergehen.
Ihr Leben, das sie sich
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