Historical Band 303
Sehnsüchte. Und das nicht nur durch diesen ersten Kuss, sondern allein durch seine Nähe – sein unbekümmertes Lächeln, die geschmeidige Anmut, die sein stattlicher, starker Körper ausstrahlte, trotz der schäbigen Kleider und staubigen Stiefel, die er trug. Jede Nacht träumte sie verruchterweise davon, in seinen Armen zu liegen, seine Lippen auf den ihren zu spüren – und mehr.
Wenn er davon wüsste, würde er sie gewiss auslachen. Nun, das zumindest konnte sie verhindern. Niemals würde er davon erfahren.
Und während der Hochzeitstermin immer näher rückte, kleidete sie sich noch schlichter als zuvor, verbarg das streng zurückgekämmte Haar unter einer züchtigen Haube und trug ausschließlich hochgeschlossene Kleider. Ihrer Erscheinung schenkte er jedoch ohnehin keine Beachtung, seine Augen waren stets auf seine Arbeit gerichtet.
Inzwischen unterhielt er sich oft mit ihr, während er malte. Sophie hörte ihm gebannt zu, wenn er ihr den neuesten Klatsch aus den Straßen von Paris erzählte. Dass den Juwelieren die Zuchtperlen ausgegangen seien, weil den vornehmen Damen der Gesellschaft zu Ohren gekommen sei, Marie-Louise habe ihr Hochzeitskleid mit Perlen besticken lassen. Dass die Handwerker am Arc de Triomphe damit gedroht hatten, die Arbeit niederzulegen, wenn sie nicht mehr Lohn erhielten. Dass Napoleons leichtlebige Schwester Prinzessin Pauline sich mit der Comtesse de Lyons darüber zerstritten hatte, wer beim Hochzeitsmahl neben dem kaiserlichen Paar sitzen würde.
„Woher wissen Sie all diese Dinge, Jacques?“, fragte sie verwundert. Auch im Palais des Tuileries gab es jede Menge Geschwätz, aber er schien noch in der gleichen Minute, da diese Ereignisse geschahen, davon zu erfahren.
Den Pinsel über die zarten Farben auf seiner Palette streichend, wandte er sich zu ihr um. „Im Palais Royal hört man alles. Man hört sogar, dass eine sehr hübsche Näherin aus dem Palais des Tuileries einen ehrbaren Verehrer nach dem anderen abweist, weil sie ihre Arbeit und ihren Vater so sehr liebt. Ihr Name …“ Er musterte sie gedankenverloren. „… lautet Sophie.“
Ihre Wangen brannten. „Ich hätte nicht gedacht, dass Sie so tief sinken würden, mir hinterherzuspionieren. Außerdem ist die Behauptung, ich habe einen Antrag nach dem anderen abgewiesen einfach … lächerlich. Ebenso wie die Behauptung, ich sei hübsch!“
„Das stimmt, Sie sind nicht hübsch.“ Er schaute sie an, wieder stand ein Funkeln in seinen dunklen Augen. „Tatsächlich sagte ich auch, Sie sind sehr hübsch. Und mir ist noch etwas zu Ohren gekommen. Nämlich, dass besagte Sophie seit vier Jahren im Palast arbeitet, damit ihr kranker Vater seine Arbeit im Louvre nicht verliert. Monsieur Denon, der eng mit dem obersten Steward im Palast befreundet ist, hat darauf bestanden, dass Sie bleiben und alle Verehrer zurückweisen, weil Sie Ihre Arbeit so vorzüglich verrichten. Sie haben im Gegenzug gefordert, dass Ihr Vater seine Stellung behält. Ist das wahr, Sophie?“
Ihr Herz flatterte so stürmisch wie ein ängstlicher Vogel, der versucht, seinem Käfig zu entfliehen. „Mein Vater verrichtet ausgezeichnete Arbeit! Keiner kennt die Sammlung so gut wie er – niemand kümmert sich mehr darum als er!“
„Doch ist er im Lauf der Zeit nachlässig und vergesslich geworden, nicht wahr?“, fragte Jacques milde. „Daher ist ihm auch erst, als es fast schon zu spät war, eingefallen, dass in der Hochzeitskapelle einige Gemälde hängen, auf denen Joséphine zu sehen ist. Und selbst dann noch glaubte er, es seien nur eines oder zwei. Erst Sie haben alle ausfindig gemacht, oder nicht, Sophie?“
„Das alles sollten Sie gar nicht wissen“, sagte sie matt. „Niemand sollte davon wissen.“
„Aber es ist wahr?“
Sie ließ die Schultern sinken. „Ja.“ Plötzlich blitzten ihre Augen auf. „Ich liebe meinen Vater eben, ich liebe meine Arbeit und außerdem habe ich nicht das Verlangen zu heiraten, mich für eine Ehe zu opfern wie die arme Marie-Louise!“
„Sind Sie sich dessen sicher, Sophie?“
In den tiefen Schatten des Raumes, umgeben von Marmorsäulen und luxuriösen Wandteppichen, dem goldenen Altar und den unbezahlbaren Gemälden, fühlte Sophie plötzlich eine Woge der Gefühle in sich aufsteigen, die ihr den Atem nahm. Er war näher an sie herangetreten – zu nah. Sie hatte nicht bemerkt, wie er Palette und Pinsel abgelegt hatte. Nun aber stand er vor ihr, legte eine Hand auf ihre Schulter, die andere
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