Historical Collection 04
aufgerissen, und in der Öffnung stand eine hochgewachsene, schwarz gewandete Gestalt. Im bleichen Licht des Mondes konnte sie nur seine Silhouette erkennen. Sein Gesicht war mit einem Tuch verhüllt. Aber sie konnte sehr wohl erkennen, wie breit seine Schultern und wie lang und kräftig seine Beine waren. Sie würde ihn weder bekämpfen noch vor ihm weglaufen können.
Sie war entschlossen, es dennoch um jeden Preis zu versuchen.
„Mein aufrichtiges Bedauern für die unbequeme Reise, Madam“, sagte er mit heiserer Stimme. Seine geschliffene Aussprache verriet seine edle Herkunft. Das war kein normaler Räuber oder Hafenarbeiter. „Ich fürchtete, Ihr würdet meine Einladung andernfalls ausschlagen.“
Elisabeth holte tief Atem und nahm all ihren Mut und ihre Würde zusammen. „Was hat das alles zu bedeuten?“, fragte sie gebieterisch. „Ich bestehe darauf, dass Ihr mich sofort nach London zurückbringt.“
„Leider ist das nicht möglich“, antwortete der Mann. „Aber Ihr habt nichts zu befürchten. Es wird euch kein Leid geschehen.“
Kein Leid? Was dachte sich der Kerl, was ihre Entführung war? Ein Auflodern von Wut verdrängte ihre Furcht. „Dreckiger Bastard!“, rief sie. Sie stürzte sich so plötzlich auf ihn, dass er nicht mehr ausweichen konnte. Ihre Fingernägel bohrten sich in seine Wangen, und sie riss ihm das Tuch vom Gesicht. Sie umklammerte seinen Hals fest mit beiden Armen, dabei wand sie sich und trat nach ihm.
„Furie!“, brüllte er, umschlang mit eisernem Griff ihre Taille und hob sie vom Boden auf.
Im Mondlicht konnte sie sein Gesicht sehen. Erschrocken erkannte sie ihren Entführer als Lord Edward Hartley.
In ihre Furcht und ihre rasende Wut mischten sich unerwartet fremde und vollkommen unangemessene Gefühle.
Erregung. Begehren.
„Ihr!“, rief sie atemlos. „Edward Hartley. Es heißt, Ihr seid ein Unhold, wie er im Buche steht, aber das hätte ich Euch nicht zugetraut.“
Er starrte sie an. Die Kratzer, die sie ihm zugefügt hatte, stachen von seinem Gesicht ab, das plötzlich bleich geworden war. Er war schockiert. „Bei allem, was mir heilig ist. Das kann nicht sein.“
5. KAPITEL
F ahrt zur Hölle! Lasst mich sofort frei! Die Königin wird von diesem Vorfall erfahren, das versichere ich Euch.“
Edward schritt nervös in dem kleinen Landhaus auf und ab. Er wollte seine Wut an irgendetwas auslassen, mit der Faust auf etwas einschlagen oder die Wand eintreten – er hätte alles darum gegeben, die Zeit zurückdrehen und seinen Irrtum korrigieren zu können. Doch er durfte sich jetzt nicht von seiner Wut leiten lassen, er musste ruhig und sachlich nachdenken, wie er diesen Schlamassel bereinigen konnte.
Elisabeth Gilberts laute Rufe aus der Schlafkammer störten ihn beim Nachdenken. Sie hämmerte mit den Fäusten gegen die alte, verwitterte Holzvertäfelung und schrie aus vollem Halse.
Als er erkannt hatte, dass sie die falsche Frau entführt hatten, dass sich Elisabeth Gilbert in seiner Gewalt befand und nicht Jane Courtwright, hatte er ihr seinen Umhang über den Kopf geworfen und sie in das kleine Haus getragen. Aber es war bereits zu spät – sie hatte ihn erkannt. Er hatte an ihrem Blick gesehen, dass sie wusste, wer er war, noch bevor sie seinen Namen ausgesprochen hatte.
Die Beute war ihm entwischt, wer weiß wohin, die Gelegenheit zur Rache hatte sich in Luft aufgelöst – und nun musste er sich mit Elisabeth Gilbert herumschlagen. Selbst unter günstigeren Umständen war sie weder folgsam noch still.
Er war ein verdammter Narr gewesen, ein Dummkopf, wenn er geglaubt hatte, dass der Plan aufgehen würde.
„Ich habe Euch gleich erkannt“, rief sie durch die Tür. „Ich verlange zu wissen, was diese Schurkerei zu bedeuten hat!“
Das war ihm in diesem Moment selbst nicht mehr ganz klar, für einen Augenblick hatte er beinahe vergessen, wie der ursprüngliche Plan ausgesehen hatte. Er musste schnell etwas unternehmen, ehe die ganze Sache in einer Katastrophe endete und alles verloren war.
Also ging Edward zur Tür und warf entschlossen den Riegel zurück. Er öffnete die Tür so schwungvoll, dass Elisabeth auf das Bett geschleudert wurde. Fackelschein fiel auf sie, sodass er sah, dass ihr Haar sich aus dem Netz gelöst hatte und wie eine dunkle Wolke auf ihre Schultern fiel. Ihr Umhang lag zusammengeknüllt am Boden, und ein Ärmel ihres Kleides war zerrissen. Darunter kam ein leinenes Unterkleid zum Vorschein. Auf einer ihrer blassen Wangen
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