Historical Collection Band 01
indes ließ auf Unberechenbares – und weit Gefährlicheres – schließen.
Gefahr, ebenso wie Liebe, kam in Mikus Leben nur in ihrer Dichtung vor. Weit fort von der sittenlosen, glitzernden Welt des Kaiserhofes, bot das abgeschiedene Dasein einer unverheirateten jungen Landadeligen außer Gesellschaftsspielen wenig Abwechslung. Jedenfalls für die meisten Frauen.
Miku dagegen besaß in ihrem Bambuspinsel einen Schlüssel, mit dem sie die Tür ihres goldenen Käfigs tagtäglich öffnete, indem sie Gedichte schrieb – kalligrafische Kunstwerke, die ihren Geist und ihre Seele, wenn nicht sogar ihren Körper, befreiten und ihre Vorstellungskraft beflügelten. Die ihr Onkel allerdings so wenig schätzte, dass er sie dafür einsperrte, und die Maßnahme mit unentschuldbaren Verstößen gegen den Anstand begründete. Allein der Gedanke an seine kleinliche Selbstgerechtigkeit brachte Miku in Rage.
Aber vielleicht erfüllte sich ihr Traum von einem Leben ohne das hohle Gepränge kleinkarierter Vornehmheit bereits heute Nacht; ihr Traum von einem freien, selbstbestimmten Leben, für das sie vielleicht sogar wertgeschätzt wurde. Und bis es so weit war, hatte sie wenigstens Pinsel und Tusche.
Bei dem bewaffneten Krieger jedoch, dessen Umriss sich durch den kicho abzeichnete, handelte es sich nicht um einen Traum.
Mikus Gedanken überschlugen sich, während ihr Blick über den Seidenvorhang glitt, ihren einzigen Schutz. Ihr Onkel hatte die gesamte Dienerschaft mitgenommen, als er vor ein paar Stunden aufgebrochen war, um einen bedeutenden, politisch einflussreichen Mann zu treffen, der aus der kaiserlichen Residenz Kyoto anreiste. Bis morgen früh, wenn ihr Onkel zurückkam, war sie allein. Allein bis auf den einzelnen Samurai, der zu ihrem Schutz abgestellt worden war. Oder um sie zu bewachen, wie sie sich voller Bitterkeit klarmachte.
Ihr Onkel war Lehnsherr über Hunderte Vasallen, die die Reisfelder außerhalb der hohen Mauern des Anwesens bewirtschafteten, und obwohl er nicht die umfassende, landesweite Macht besaß, die der Kaiser Shogun-Fürsten mitunter verlieh, übte er doch einen beträchtlichen Einfluss in der Umgegend aus. Und wie viele andere lokale Herrscher befehligte er eine Truppe von Samurai – schlagkräftige Krieger, die ihm den Treueeid geschworen hatten.
Bei dem Gedanken, dass einer dieser gewöhnlichen Söldner sich in unmittelbarer Nähe ihrer Gemächer herumtrieb, schoss heißer Zorn in Miku hoch. Sie war davon ausgegangen, dass der Samurai sich auch die Nacht über im Hintergrund halten würde, so wie er es den ganzen Tag getan hatte. Jedenfalls so weit im Hintergrund, dass er es nicht bemerkte, wenn sie das Anwesen in der Dunkelheit unauffällig verließ. Würde er jetzt etwa so kühn sein, ihr sogar gegenüberzutreten?
Mikus Blick fiel auf die Papierrolle, die auf dem Lackpult vor ihr ausgebreitet lag. Der Vers, den sie verfasste, handelte von Kirschblüten, die als die schönsten und empfindlichsten Blüten galten. In ihrem Gedicht dagegen konnte sogar Schneefall der geöffneten Kirschblüte nichts anhaben, sondern unterstrich nur ihre unvermutete Widerstandsfähigkeit und ihre durchscheinende Zartheit.
Obwohl ihr das Herz gegen die Rippen trommelte, festigte sich Mikus Entschlossenheit. Was dachte sich dieser grobschlächtige Haudegen dabei, ungebeten in ihrem persönlichen Refugium aufzutauchen? Gleichgültig, was ihr Onkel verfügt hatte. Ihre Bangigkeit wich einer schwelenden Empörung angesichts des anmaßenden Verhaltens des bewaffneten Mannes.
„Sprich oder geh“, verlangte sie nachdrücklich.
Einen Lidschlag lang herrschte Stille, dann ertönte eine tiefe, grollende Stimme von der anderen Seite des kicho . „Ich schulde niemandem Rechenschaft außer dem Herrn dieses Anwesens.“
„Der Herr ist abwesend, daher bist du mir rechenschaftspflichtig.“
„Ich bin über seine Abwesenheit unterrichtet und deshalb hier.“
Eine Kälte, eisiger als die des winterlichen Nordwinds, breitete sich in Miku aus. Also hatte ihr Onkel dem Samurai befohlen, ihre Gemächer zu überwachen, sobald die Dämmerung einsetzte. Sie atmete tief durch, um ihrer Stimme Festigkeit zu verleihen, dann sprach sie den Umriss hinter der Seidenstoffbahn an: „Du störst den Frieden einer adligen Dame. Deine weitere Anwesenheit wird nicht gebraucht.“
Ein raues Lachen ertönte auf der anderen Seite des kicho . „Was Ihr braucht, bestimme ich.“
Sämtliche Furcht, die bei den Worten des Mannes neu
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