Historical Exclusiv 45
als ihn zu zwingen, dem Manne gegenüberzutreten, dem man nachsagte, das Ebenbild ihres barbarischen Vaters zu sein. „Das kann nicht sein“, entgegnete er und bemerkte die Anspannung in seiner Stimme.
Leon nickte bestätigend. „Es ist so. Chevalier de Sayerne gewann die Herrschaft über Annossy, als er sich mit Melissande d’Annossy vermählte, der einzigen Tochter des Hauses. Er herrscht nun über beide Besitztümer.“
Yves holte tief Luft und betrachtete das brennende Lager. Er sammelte Kraft für eine schwere Prüfung, die er niemals dachte erdulden zu müssen. Gewiss würde es Quinn ergötzen zu sehen, wie sein unehelich geborener Bruder als Bittsteller vor ihn trat.
Doch er wusste, seine Angst, vor seinen tückischen Bruder hinzutreten, war nichts im Vergleich dazu, was Gabrielle zweifellos bereits erleiden musste.
Das Schlimmste, was Quinn tun konnte, war, ihm seine Bitte abzuschlagen.
Das Schlimmste, was Philippe Gabrielle antun konnte, war undenkbar.
Saint-Roux holte tief Luft und blickte in die Augen seiner verbliebenen treuen Gefährten. „Lasst uns nach Annossy reiten“, sagte er entschieden, und man konnte keine Anzeichen von Angst in seiner Stimme hören. „Wir werden die Hilfe des dortigen Burgherren erbitten, und das schnell.“
Gaston erwachte durch ein unbarmherziges Pochen, als würde mit einem Rammbock gegen ein schweres Tor geschlagen. Eine verzweifelte Jungfrau war im Turm eingeschlossen, das Château wurde von edlen Rittern belagert, und es war seine Aufgabe, das Tor für die Befreier zu öffnen, um das schöne Fräulein zu retten. Er schrak vor dem beschwerlichen Auftrag zurück, der vor ihm lag, doch tapfer öffnete er ein Auge.
Ein gleißender Sonnenstrahl veranlasste ihn, das Auge gleich wieder zu schließen. Das Pochen wurde heftiger, und Gaston wurde nun erst bewusst, dass das Hämmern aus dem Inneren seines Kopfes kam.
Er hatte seinen üblichen Traum geträumt.
Der Knappe seufzte. Er war enttäuscht darüber, dass es in Wahrheit keine Jungfrau gab, die es zu retten galt, keine Heldentat, die vollbracht werden musste, keine schreckliche Wunde als Trophäe seines Heldenmuts zierte seine Stirn. Bloß Kopfschmerzen, die wahrscheinlich das Ergebnis einer durchzechten Nacht waren.
„Bleib ruhig liegen“, drängte Gabrielle leise.
Der Klang der Stimme weckte eine Flut an Erinnerungen in ihm. Zu seiner Freude war sein Traum nicht weit von der Wahrheit entfernt. Die edlen Chevaliers – angeführt von seinem Herrn und Ritter – hatten das Château bei Nacht gestürmt.
Und die Edelfrau war mit ihnen gezogen, doch sie hatte sich allein und schutzlos in die Burg begeben. Er, Gaston, war ihr gefolgt, denn sein Herr hätte das Gleiche getan, wenn er nicht so sehr im Kampfe bedrängt gewesen wäre und er das Verschwinden der Burgherrin bemerkt hätte. An alles Weitere konnte er sich indes nur noch schwach erinnern.
Diesmal zwang er sich, beide Augen zu öffnen, und wie zuvor durchflutete das Sonnenlicht den Raum. Die Edelfrau kauerte neben ihm und betrachtete ihn besorgt. Plötzlich fürchtete Gaston, in Schlaf gesunken zu sein, während sie seiner Hilfe am meisten bedurft hatte.
Konnte er so entsetzlich versagt haben bei der ersten Gelegenheit, die sich ihm bot, seine Kühnheit zu beweisen?
„Wie lange habe ich geschlafen?“, fragte der Knabe und war überrascht, dass seine Stimme wie die eines heiseren Raben klang.
Gabrielle lächelte ein wenig. „Du hast nicht geschlafen, Gaston“, berichtigte sie ihn sanft. „Man hat dich hinterrücks niedergeschlagen. Erinnerst du dich nicht, Philippe angegriffen zu haben?“
Gaston schüttelte den Kopf, doch bei dieser Bewegung durchzuckte ihn erneuter Schmerz.
„Du hast eine mächtige Beule, die Beweis für deine Tapferkeit ist.“
Tapferkeit. Das klang schon besser, als in Schlaf gefallen zu sein.
Donnerwetter, hätte er beinahe laut aufgeschrien, als er seinen Hinterkopf untersuchte und vorsichtig die Beule befühlte.
„Ich habe die ganze Nacht kaltes Wasser darauf getan“, sagte Gabrielle. „Sie ist bereits kleiner geworden.“
„Sie ist größer als ein Gänseei!“, erregte sich der Knappe.
Darüber lächelte sie, aber es lag keine Fröhlichkeit in ihren Augen. „Deine Finger täuschen dich“, sagte sie. „Sie ist viel kleiner.“ Sie erhob sich und bewegte sich anmutig durch die Kammer. Sie tauchte das Tuch erneut ins Wasser und drückte es aus. Dann kam sie zurück und legte es auf Gastons Wunde. Durch
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