Historical Exclusiv 45
Sippe eine Schankstube betreibt und Ketil sich ein leichtes Leben versprach, in dem er Bier bis zum Umfallen in sich hineinschütten konnte. Orn verweigerte ihm die Hand seiner Tochter, Ketil entführte das Mädchen und wollte es zur Heirat zwingen.“
Yvaine bedachte ihn mit einem viel sagenden Blick, den Rorik geflissentlich übersah. „Und dann?“
„Sie machte ihn betrunken und konnte fliehen. Unglücklicherweise verirrte sie sich und erreichte ihr Elternhaus erst am nächsten Tag. Mittlerweile verbreitete Ketil das Gerücht, sie habe die Nacht mit ihm verbracht. Orn, der einzige Mann in der Familie, nachdem sein Sohn im vergangenen Jahr gestorben war, forderte Ketil zum Kampf heraus, um ihn als Lügner zu entlarven.“
Yvaine geriet bei Roriks Bericht ins Grübeln. Offensichtlich sah er nichts Befremdliches darin, dass er oder ein anderer eine Frau bei seinen Plünderfahrten entführte, während in der Heimat strenge Gesetze galten. Lag es daran, dass die Opfer der Wikinger Angelsachsen waren? Wenn ja, warum hatte er sie dann geheiratet?
„Deshalb besuche ich heute Orns Familie, um zu berichten, was vorgefallen ist.“
Sie hob den Blick. „Es tut mir Leid, Rorik“, entgegnete sie aufrichtig bedauernd. „So etwas ist nicht leicht. Aber dich trifft keine Schuld. Du konntest schließlich nicht ahnen, was Ketil im Schilde führte.“
Er verharrte, halb von ihr abgewandt, bevor er zur Tür griff. „Ich hätte es wissen müssen.“
„Nein – warte!“, rief sie, als er den Schlüssel umdrehte. Sie wollte nicht, dass er ohne ein Wort des Abschieds ging. Er wirkte launisch, seine Stimmung wechselte unvermutet von sanft und einfühlsam zu schroffer Abweisung. Für einen Mann, dem der Sinn nach Verführung stand, hatte er es sehr eilig, von ihr fortzukommen.
„Rorik, was fehlt deinem Vater? Vielleicht kann ich etwas tun, um seine Schmerzen zu lindern.“
Roriks Miene wurde weicher, aber der finstere Blick wich nicht aus seinen Augen. „Die Heiler sagen, sein Herz ist müde. Man kann nichts für ihn tun, und er nimmt keine Hilfe an. Da wir von Hilfe sprechen“, fuhr er fort, „du musst heute ohne Anna zurechtkommen. Es hat zwar niemand Anklage erhoben, aber Gunhild wird als Erste unsere Schlafkammer betreten, wenn du aufgestanden bist.“
„Ach ja.“ Sie schlug die Augen nieder. Verlegenheit trieb ihr die Hitze in die Wangen. „Ich brauche keine Hilfe beim Ankleiden“, murmelte sie.
Er nickte zögernd, als wolle er noch etwas sagen, dann öffnete er die Tür und war fort.
Als Yvaine die Halle betrat, legten die Sklaven die Arbeit nieder, alle Gespräche verstummten. Die Mägde an den Kochtöpfen drehten die Köpfe nach ihr um. Ingerd, die dabei war, die Felle auf den Bänken auszuschütteln, fixierte sie aus flinken Vogelaugen. Anna, die ihr entgegengehen wollte, wurde von einer Magd am Arm zurückgehalten.
Gunhild erhob sich von ihrem Platz am Webstuhl und näherte sich ihr hoheitsvoll.
Yvaine straffte die Schultern und nahm sich vor, höflich zu sein, und wenn sie daran ersticken sollte. „Ich wünsche einen guten Morgen, Gunhild.“
„Das wird sich noch herausstellen“, entgegnete Gunhild spitz und rauschte an ihr vorbei. „Es ist bald Mittag.“
Yvaine schnitt hinter ihrem Rücken eine Grimasse. Dann entdeckte sie Egil, der gebeugt in seinem Stuhl saß und die Begegnung beobachtet hatte. Sie durchquerte die Halle mit langsamen Schritten, um ihr verletztes Knie zu schonen.
Und plötzlich wich die Spannung. Die Sklaven wechselten wissende Blicke und nahmen die Arbeit wieder auf. Ingerd schürzte nachdenklich die Lippen. Die Frau, die Anna zurückgehalten hatte, knuffte sie in die Seite und flüsterte ihr etwas zu, worauf Annas besorgte Miene sich aufhellte.
Über Egils bleiche Lippen flog ein schwaches Lächeln. „Komm, Mädchen“, sagte er und wies auf die Bank neben sich. „Deinem Gang nach bist du die ganze Nacht scharf geritten worden.“ Er lachte heiser. „Setz dich.“
Yvaine warf ihm einen tadelnden Blick zu und gehorchte.
„Solltet Ihr nicht das Bett hüten und Euch ausruhen, Mylord?“ Seine bläulichen Lippen erfüllten sie mit Sorge. Egil könnte ihr gewiss ein paar Fragen beantworten, die sie bedrängten, seit Rorik gegangen war, aber sie scheute sich, den alten Mann in seinem angegriffenen Zustand aufzuregen.
„Bald habe ich sehr viel Zeit, mich in meinem Grab auszuruhen, Mädchen. Und nenn mich Egil. Wir Norweger halten nicht viel von hochtrabenden Titeln.
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