Historical Exclusiv 45
gleichen Jahr unterzeichneten Guthrum und Alfred of Wessex einen Friedensvertrag, und die Dänen durften weiterhin im Nordosten von England siedeln, dem Danelag, wie die Engländer es nennen. Sitric blieb in Guthrums Diensten, aber er war ruhelos. Jedes Mal, wenn er zu Besuch kam, fragte ich mich, wann er seinen Dienst bei Guthrum quittieren und sich einem anderen Anführer anschließen oder sein eigenes Schiff ausrüsten würde. Und bei seinem letzten Besuch, vier Jahre nachdem Sitric sich den Dänen angeschlossen hatte, ging Rorik mit ihm.“
„Nach England?“
„Ja, nach England. Und sechs Jahre später starb Sitric. Mehr brauchst du nicht zu wissen, Mädchen. Wenn Rorik dir die ganze Geschichte erzählen will, wird er es tun. Aber eines solltest du dir merken: Familienehre ist das Wichtigste im Leben eines Norwegers. Wenn ein Angehöriger einer Sippe erschlagen wird, wird er gerächt, ohne Wenn und Aber. Manchmal wird das Oberhaupt einer Familie auserwählt, Vergeltung zu üben, oder aber ein anderer tapferer Mann, selbst wenn er nicht von dem ursprünglichen Verbrechen betroffen ist, ja selbst wenn er die Blutrache missbilligt. Die Fehde geht nicht nur auf Söhne und Brüder über, sondern auch auf Vettern zweiten und dritten Grades, selbst auf Pflegekinder, die ihren eigenen Vater verloren haben, wie der junge Thorolf, und auf jeden, der in die Familie einheiratet. Ehre, Kind. Vergiss das nicht.“
„Yvaines Ehrgefühl ist ausgeprägter als das mancher Männer“, ließ Roriks Stimme sich vom Eingang her vernehmen.
Sie wandte den Kopf, während ihr Herzschlag sich beschleunigte. Seine hoch gewachsene, kraftvolle Gestalt füllte den Türrahmen. Doch während er die Halle durchquerte, sah sie einen flüchtigen Moment nicht den stolzen Krieger ihrer Jungmädchenträume, sondern einen Knaben, der nie die liebevolle Fürsorge einer Mutter kennen gelernt hatte, ein Knabe, unter Männern aufgewachsen, deren Begriff von Ehre hart und unnachgiebig war.
Aufsteigende Zweifel brachten ihren Entschluss ins Wanken. Als er vor ihr stand, hob er ihr Kinn mit zwei Fingern und hauchte ihr einen flüchtigen Kuss auf den Mund. Und sie fragte sich bang, ob die Liebkosung nur ein weiterer Versuch war, sie umzustimmen.
„Hab ich nicht Recht, meine Liebe?“
„Womit?“
Egil lachte. „Was hast du mit dem Mädchen angestellt? Sie kann nicht richtig gehen, und jetzt verwirrt sie sogar dein Begrüßungskuss.“
Yvaine straffte errötend die Schultern. „Mein Verstand ist völlig klar, Egil. Wir sprachen soeben von Ehre. Ein Thema, das in letzter Zeit häufig an mich herangetragen wird, wie mir scheint. Ich nehme an …“, sie erhob sich würdevoll, schlüpfte in die Rolle der Hausherrin, die sich derben Männerscherzen zu entziehen weiß, „du hast gewiss Wichtiges mit deinem Sohn zu besprechen, und ich bin mit Anna verabredet. Wenn ihr mich also entschuldigen wollt …“
Ohne auf Egils spöttischen Blick und Roriks fragende Miene zu achten, machte sie auf dem Absatz kehrt und durchquerte mit dem Maß an Würde, das ihr die Knieverletzung gestattete, die Halle.
„Guten Tag, Lady“, grüßte Anna, die an einem langen Tisch auf Böcken stand. „Wir Ihr seht, hat man mir bereits Arbeit zugeteilt.“
Yvaine blickte mit großen Augen auf die Tischplatte, als sehe sie einen kostbaren Schatz. Anna bewegte einen glatt geschliffenen Stein, in den ein Bügel aus Holz eingelassen war, auf einem in Falten gelegten Stück Stoff hin und her. „Hm, wie interessant.“
Das Mädchen wurde unruhig. „Fühlt Ihr Euch nicht wohl, Lady? Man wollte mich gestern und heute früh nicht in Eure Nähe lassen, und Ihr scheint mir irgendwie …“
„Nein, nein, mir geht es gut, Anna. Ausgezeichnet. Offenbar ist es in diesem Land Sitte … ähm …“, sie holte tief Atem, „… dass die Familie des Bräutigams … ähm … prüft, ob die Braut unberührt in die Ehe geht.“
„Pah! Ich hätte der Familie sagen können, dass Ihr unberührt seid, allein von den Gerüchten, die in Selsey im Umlauf waren. Aber Rorik hat Thorolf und mir verboten, darüber zu sprechen, dass Ihr schon einmal verheiratet gewesen seid. Er meinte, das würde nur Ärger geben, also weiß niemand davon. Nur Britta natürlich, und sie ist nicht hier.“
„Ich verstehe. Aber was ist mit dir, Anna? Hoffentlich hat man dich nicht schlecht behandelt.“
„Nein, ganz und gar nicht. Ich habe einen behaglichen Schlafplatz auf dem Heuboden und bekomme gutes Essen.
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