HISTORICAL EXCLUSIV Band 21
eine düstere Unterwelt, in der man spurlos verschwinden konnte. Schon mancher war von einem Matrosenwerber im Schutz der Nacht entführt worden. Andere fielen alltäglichen Verbrechen zum Opfer oder wurden im Auftrag einer der hiesigen Bandenbosse beseitigt.
Belle Tauber zog sich den abgetragenen Schal enger um die Schultern. Sie lehnte an der kalten, feuchten Mauer eines schäbigen Häuschens und beobachtete, wie ihr letzter Freier in dieser Nacht in den Nebel hinausstolperte. Es muss mein Glückstag sein, dachte sie spöttisch. Die Hälfte der Männer, die Severn ihr an diesem Abend geschickt hatte, war rasch zufriedenzustellen gewesen und hatte sich genauso schnell wieder verdrückt. Einer war sturzbetrunken umgefallen, noch ehe er sich ausgezogen hatte. Zwei weitere Kerle mussten unsanft hinausbefördert werden, da sie das Bewusstsein verloren, noch bevor viel geschehen war. Belle hatte es geschafft, den besinnungslosen Männern die Taschen zu leeren, während Severn höchstwahrscheinlich ihren anderen Freiern die Wertsachen abgeknöpft hatte, als sie durch die dunklen Gassen nach Hause wankten.
Belle verschwendete kaum einen Gedanken an die unglücklichen Opfer. Jeder, der die düsteren Straßen von Barbary Coast betrat, wusste, worauf er sich einließ. Man musste für das Privileg, hier sein zu dürfen, immer bezahlen. Ob mit dem Leben oder bloß mit Geld – das bestimmte das Schicksal.
Hoffentlich fand Severn nicht heraus, dass Belle ein paar Münzen aus den abendlichen Einnahmen für sich selbst zurückbehalten hatte. Die Vorstellung, was er sonst mit ihr machen würde, jagte ihr einen eisigen Schauer über den Rücken. Noch blieb ihr Zeit, das Geld zur übrigen Ausbeute zu legen. Dann konnte sie wenigstens sicher sein, dass Severn sie nur begehrlich anfassen würde – und nicht, um sie grün und blau zu prügeln.
Wenn die Sonne aufging und ihre Strahlen den dichten Nebel aufzulösen begannen, würde Belle ein Jahr älter sein. Sie bezweifelte, dass sich die anderen Frauen vom Hurenhaus an ihren Geburtstag erinnerten. Miss Lilly würde ihn aber bestimmt nicht vergessen. Sie hatte Belle versprochen, ihr einen Abzug des Fotos zu bringen, das sie vor einer Woche von ihr gemacht hatte. Es sei ein passendes Geschenk zum zwanzigsten Geburtstag, hatte Miss Lilly freundlich gemeint.
Belle wusste, dass ihr die Tätigkeit, der sie nachging, bereits seit Langem jeglichen Anflug von Jugend und Schönheit geraubt hatte. Deshalb musste sie auch in dieser Absteige arbeiten und konnte sich nicht mehr in dem teuren Bordell zeigen, wo Madame Belles Unschuld an den höchstbietenden Mann verkauft hatte. Damals war sie noch hübsch gewesen. Das Foto, das Miss Lilly von ihr gemacht hatte, würde ihr wohl deutlich vor Augen führen, dass ihre Schönheit für immer vergangen war.
Sie entschloss sich, Severn das Geld, das sie zurückbehalten hatte, doch nicht zu geben. Schließlich war ein wenig Kapital ihre einzige Möglichkeit, irgendwann einmal dieses Leben hinter sich zu lassen. Der mickrige Betrag reichte allerdings noch nicht aus, um Severn zu entkommen. Sie musste darauf warten, dass eines Tages ein Mann auftauchte, der ihm sein Revier streitig machen würde. Erst dann besaß Belle eine echte Chance, auf Nimmerwiedersehen zu verschwinden.
Wieder lief es ihr eisig über den Rücken. Sie zog sich den Schal noch fester um die Schultern. Am besten war es, wenn sie jetzt ins Haus ging, denn die schmutzigen Fetzen, die sie am Leib trug, schützten sie nicht vor der Kälte der Nacht. Severn geriet immer schrecklich in Wut, wenn sie krank war. Eine Frau, die an Schüttelfrost litt, verdiente kaum genug Geld, um ihren Zuhälter zufriedenzustellen. Und für sie selbst würde dann gar nichts mehr übrig bleiben. Leise, um die anderen, die bereits schliefen, nicht zu wecken, betrat Belle das Haus.
Aus Severns Zimmer ertönte das laute Lachen eines Mannes. Severn antwortete mit seinem üblichen Gemurmel, sodass Belle nicht verstehen konnte, was er sagte. Wahrscheinlich sahen sich die Männer die große Sammlung stereoskopischer Erotikbilder an, die Severn besaß. Es waren dreidimensionale Aufnahmen molliger, halb nackter oder völlig entkleideter Frauen, die sich in unvorstellbaren Positionen dem Betrachter entgegenrekelten. Severn benutzte die Fotos manchmal, um das Blut eines Freiers in Wallung zu versetzen. Auf diese Weise trieb er den Preis für die Dienste einer seiner Huren noch einmal beträchtlich in die Höhe. Wenn der
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