HISTORICAL EXCLUSIV Band 21
im Stich zu lassen.
Vielleicht sah sie auch nicht so hilflos wie andere Frauen aus. Oder nicht so anständig. Schließlich trug sie ihre ganze fotografische Ausrüstung selbst. Welche Dame aus dem Bürgertum beschäftigte sich denn schon mit der Wissenschaft der Kamera und verfolgte auch noch die Absicht, sich damit finanziell über Wasser zu halten? Jedenfalls keine, die Lilly bekannt gewesen wäre. Sie kannte auch keine Angehörige des sogenannten schwachen Geschlechts, die kräftig genug gewesen wäre, um die schwere Kamera und das fotografische Zubehör ohne Hilfe zu tragen. Auch ihre Schwester und ihre Eltern hatten noch nie von einer ähnlichen Frau wie Lilly gehört, was sie ihr immer wieder klarzumachen versuchten.
Manchmal kam es ihr fast so vor, als ob die Mitglieder ihrer Familie nur ein einziges Thema kannten: Lillys Unfähigkeit, sich so wie andere Damen ihres Standes zu benehmen. Dieser Vorwurf führte stets zu derselben Schlussfolgerung: Solange sie derart eigensinnig ihren Weg verfolgte, brauchte sie sich nicht zu wundern, wenn sie keine Verehrer hatte.
Niemand schien je auf den Gedanken zu kommen, dass Lilly genau das war, wozu ihre Familie sie gemacht hatte. Sie besaß die große Gestalt ihres Vaters und ihres Bruders. Und ihre unweiblich anmutende Kraft war das Ergebnis vieler Jahre anstrengender Pflege an ihrer kranken Mutter, die im Rollstuhl saß. Es war im Grunde nicht verwunderlich, dass Lilly keine Verehrer vorweisen konnte. Schließlich gab es außerhalb des engen Bekanntenkreises ihrer Eltern keinerlei gesellschaftliche Beziehungen, die sie hätte ausbauen können. Wie sollte sie einen passenden jungen Mann kennenlernen, wenn sie meist damit zu tun hatte, den ältlichen Freundinnen ihrer Mutter Tee einzugießen oder einen alten Geschäftsfreund ihres Vaters zu unterhalten?
Zugegebenermaßen besaß sie nicht die strahlende Schönheit ihrer Schwester oder ihres Bruders. Lilly war nicht nur zehn Jahre nach Edmund und fast neun Jahre nach Vinia auf die Welt gekommen; man hatte sie eindeutig auch übersehen, als es um die Verteilung der körperlichen Vorzüge gegangen war.
Statt blonde Locken wie ihre Geschwister zu haben, hatte sie braunes Haar, das sich nur lockte, wenn sie eine Brennschere benutzte. Während Edmund und Vinia Augen aufwiesen, die den Betrachter an einen Sommerhimmel denken ließen, erinnerten Lilly ihre eigenen Augen eher an einen Regentag. Gutmütige Matronen beschrieben sie als stattlich, denn ihre Nase war zu lang, ihre Kinnlinie zu ausgeprägt, und ihre Wangenknochen waren zu hoch. Um all dem noch die Krone aufzusetzen, hatte sie das Linkische ihrer Mädchentage behalten und war im Gegensatz zu anderen jungen Frauen ihres Alters ohne anschauliche weibliche Rundungen.
Lilly seufzte. Das waren also die Gründe, warum sie höchstwahrscheinlich sicher und unbelästigt durch Barbary Coast laufen konnte. Außerdem war auch ihr Geldbeutel nicht besonders schwer. Der unverschämte Preis, den der Kutscher verlangt hatte, machte es ihr nun unmöglich, sich eine Tasse Tee und ein Stück Kuchen zu leisten, bevor sie wieder eine Droschke nach Hause nahm. Wenn Edmund nicht angeboten hätte, ihr die Glasplatten, Chemikalien, das Albuminpapier und die Kartonagen zu bezahlen, hätte sie den Leuten, die sie porträtiert hatte, keinen Abzug schenken können.
Das brachte sie wieder auf Belle Tauber, die vermutlich bereits auf sie wartete. Während Lilly die Straße entlangeilte, überlegte sie, ob der jungen Frau wohl das Passepartout mit den feinen Goldlinien gefallen würde, das ihr Foto nun umgab. Sie hatte sich zu dieser Umrahmung entschlossen, weil Belle heute Geburtstag hatte. Es war seltsam, sich vorzustellen, dass sie sechs Jahre jünger als sie selbst war. Lilly hätte eher angenommen, sie sei zehn Jahre älter als sie, so verlebt sah sie bereits aus.
Die junge Frau, die auf der Stufe zur Hintertür des Hurenhauses saß und geduldig wartete, wirkte so anders als die Prostituierte, die Lilly kennengelernt hatte, dass sie zwei Mal hinschauen musste. Belle hatte dasselbe abgetragene Kleid an und den dünnen Schal um die Schultern gelegt wie sonst auch. Die Veränderung stammte nicht nur von dem frisch gewaschenen Haar, das sie sich hochgesteckt hatte, sie schien vielmehr von einer Aufregung ergriffen zu sein, die sie vorher noch nie gezeigt hatte. Als sie Lilly erblickte, sprang sie auf und eilte ihr mit unnatürlich funkelnden Augen entgegen. Einen kurzen Moment lang schimmerte
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