HISTORICAL EXCLUSIV Band 21
heute Abend finden kann. Sobald er mich bezahlt hat, werde ich die Stadt verlassen und irgendwo anders ein neues Leben beginnen.“
Und wenn er sie nicht bezahlte? Lilly fragte sich, ob Belle diese Möglichkeit überhaupt in Betracht zog. Auch wenn sie selbst ein schlechtes Gefühl bei der ganzen Angelegenheit hatte, so wusste sie doch, dass es sinnlos sein würde, mit der entschlossenen Frau zu streiten. Vielleicht würde sie in Belles Lage genauso waghalsig handeln.
Lilly schloss die Prostituierte rasch in die Arme und freute sich, als sie nach einem kurzen Zögern die Umarmung erwiderte. „Dann hoffe ich, dass dein neues Leben so wird, wie du dir das erträumst.“
„Ich danke Ihnen, Miss Lilly. Ich weiß, dass es so sein wird.“ Belle kicherte plötzlich nervös. „Schlimmer als mein bisheriges Leben kann es wohl kaum sein, nicht wahr?“
Das stimmte wahrhaftig, aber doch beruhigte es Lilly keineswegs. Belles Plan barg unzählige Gefahren in sich. Hätte sie doch nur nicht noch weitere Fotografien zu verteilen und den Zeitungsjungen versprochen, dass sie heute eine Aufnahme von ihnen machen würde! Aber schließlich hatte Belle wesentlich mehr Erfahrung im Umgang mit Männern als sie selbst. Die junge Frau würde schon wissen, worauf sie sich da einließ.
Lilly schulterte die Kamera. „Ich wünschte, ich könnte noch etwas bleiben, aber …“
„Ich verstehe schon“, versicherte ihr Belle. „Vielen Dank für die Fotografie.“
„Das ist doch gern geschehen. Ich hoffe, du genießt noch deinen restlichen Geburtstag.“ Mit diesen Worten drehte sich Lilly um und ging die Gasse dorthin zurück, woher sie gekommen war.
„Das tue ich bestimmt, vor allem wenn ich den anderen Mädchen mein Foto zeige!“, rief ihr Belle ausgelassen hinterher.
Lilly winkte ihr noch einmal zu und bog dann um eine Ecke in die Hauptstraße ein.
Der Plan der Prostituierten gefiel ihr ganz und gar nicht. Sie war gerade einmal ein gutes Dutzend Schritte die belebte Pacific Street entlanggegangen, als sie sich entschloss, doch zu Belle zurückzukehren. Nichts war so wichtig, als die Frau davon zu überzeugen, dass Erpressung nicht die Antwort auf ihre Gebete sein konnte. Sie wollte sie zu Tee und Kuchen einladen und lieber mit der schweren Kamera auf der Schulter nach Hause laufen, als ihre Pflicht als Freundin zu versäumen. Irgendwie würde es ihr schon gelingen, sie zu überreden, einen weniger gefährlichen Weg einzuschlagen, um Barbary Coast verlassen zu können.
Lilly drehte sich rasch um und eilte um die Ecke zu der menschenleeren Gasse zurück, in der Belle wohnte. Ihr dunkelbraunes Kostüm war kaum von den im Schatten gelegenen Hauswänden zu unterscheiden.
Als sie das Sträßchen betrat, stellte sie fest, dass Belle noch nicht ins Haus hineingegangen war. Sie hatte den Kopf nach unten gebeugt und betrachtete so versunken die Fotografie, dass sie offenbar den Mann gar nicht bemerkte, der aus dem Gebäude hinter ihr trat.
Es war ein schlaksiger, wenn auch nicht auffallend großer Bursche. Da er keinen Hut trug, konnte Lilly erkennen, dass sein dunkles Haar bereits dünn wurde und sich Geheimratsecken auszubilden begannen. Seine Hose hatte eine ähnliche schlammgraue Farbe wie das Pflaster, während sein Hemd zu den Ziegelsteinen der umliegenden Häuser passte. Er trug keinen Bart, und sein Gang wirkte so selbstsicher und gewandt, dass er in einem Viertel wie Barbary Coast deutlich ins Auge stach.
Auf einmal schien Belle zu merken, dass sich ihr jemand näherte. Sie drehte sich um und ließ die Hand sinken, in der sie die Fotografie hielt; das Bild verschwand in den Falten ihres Rocks. Da sie keinerlei Angst beim Anblick des Mannes zeigte, war Lilly überhaupt nicht darauf vorbereitet, als dieser plötzlich mit einer blitzschnellen Bewegung ein Messer hervorholte und der Prostituierten damit den Hals durchschnitt.
Lilly stand vor Schock wie gelähmt da. Der Mann nahm sein Opfer fast zärtlich in die Arme, als es leblos zusammensackte. Ihr Porträt fiel Belle aus der Hand und wurde vom Wind in die Gasse getragen.
Deegan Galloway stand auf der Straßenseite, die der vom Geschäft des Leichenbestatters gegenüberlag, und betrachtete den Blumenschmuck. Die Trauerdekoration schien geschmackvoll zu sein. Jedenfalls so geschmackvoll, wie das den verschwenderischen Bürgern von San Francisco, die durch den Bergbau und die Eisenbahn reich geworden waren, entsprach. Prahlerei und Aufschneiderei waren geradezu
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