HISTORICAL EXCLUSIV Band 22
gesprochen hatte.
Als das Begräbnis vorüber war, kehrte Kathryn in die Kemenate zurück, die sie mit Bridget geteilt hatte. Sie wollte alleine sein, aber nicht in diesem muffigen, alten Raum, in dem ihr Blick, wenn sie hochschaute, immer wieder zu Bridgets Totenbett wanderte. In ihr war eine große Leere, die gefüllt werden wollte.
Sie zog ihre alte Reisekleidung an: die braunen Beinkleider mit der grobwollenen Tunika, ihren Umhang und die Kappe, die ihr Haar so gut verbarg. Alles war still, als Kathryn durch die Große Halle ging; auch auf ihrem Weg zu den Stallungen begegnete sie niemandem. Nachdem man eine Stute für sie gesattelt hatte, ritt Kathryn an der Zugbrücke vorbei zu der Wiese jenseits der Burgmauern.
Schon kurz danach suchte Wolf nach ihr. Als er ihr Gemach leer antraf, fragte er verschiedene Diener nach ihrem Verbleib; doch niemand hatte sie gesehen. Da er vermutete, dass sie zum Friedhof zurückgegangen war, begab er sich dorthin, konnte sie aber nirgends finden. Er war jetzt nicht mehr nur leicht beunruhigt, sondern in höchster Alarmbereitschaft und eilte zu den Stallungen, um sich Janus von einem Stallburschen satteln zu lassen.
„Haltet Ihr nach Lady Kathryn Ausschau, Sir?“, fragte der Knabe.
„Lady Kathryn? Was weißt du von ihr?“
„Nichts, Sir, nur dass sie vor einer kleinen Weile ausgeritten ist.“
„Allein?“
Der Junge zuckte die Schultern.
„Wohin? Welchen Weg hat sie genommen?“
Der Bursche deutete in die Richtung.
Wolf machte sich im gestreckten Galopp auf die Suche nach Kathryn. Für eine Frau war es gefährlich, so allein außerhalb der Burgmauern zu sein. Es ist unvernünftig – nein, geradezu tollkühn und dumm von ihr, in dieser ihr unbekannten Gegend ausreiten zu wollen, dachte er ärgerlich – bei all den Fremden, die zum Jahrmarkt in die Stadt gekommen sind. Wolf war zwar dem König persönlich für ihre Sicherheit verantwortlich, aber seine Angst hatte noch einen tieferen Grund. Obwohl es ein ungewohntes Gefühl für ihn war, ging seine Furcht, dass ihr etwas zustoßen könnte, weit über seine Sorge hinaus, dafür vor König Heinrich Rechenschaft ablegen zu müssen.
Er ritt ein ganzes Stück über die Wiese, auf der er vor zwanzig Jahren mit seinen Brüdern gespielt hatte. So viele Versteckmöglichkeiten, so viele Stolpersteine für eine unvorsichtige Reiterin. Wolfs schlimmste Befürchtungen schienen sich zu erfüllen, als er ein gesatteltes Ross erblickte, das reiterlos nahe dem kleinen See entlangtrottete, an dem er immer mit seinem Vater und den Brüdern gefischt hatte. Getrieben von der blinden Angst, dass Kathryn abgeworfen wurde und jetzt irgendwo verletzt im Gras lag, saß Wolf ab.
Ein entwurzelter Baum ragte in das stille Wasser des Sees. Kathryn kletterte über die riesigen Wurzeln und balancierte über den langen, dicken Stamm. Sie umging einen senkrecht herausragenden Ast, setzte sich, mit dem Rücken gegen diesen Ast gelehnt, auf den Stamm und ließ die Füße baumeln. Kurze Zeit später zog sie die Schuhe aus und tauchte die Zehen in das klare, kühle Wasser.
Sie saß schon eine ganze Weile so da, als sie plötzlich hörte, wie sich ihr ein Reiter stetig näherte. Es dauerte noch eine gewisse Zeit, bis er endlich zu Fuß das Ufer des Sees erreichte. Kathryn war erleichtert, als sie Wolf erblickte.
Er schien nach etwas im Gras Ausschau zu halten, und Kathryn war ein wenig enttäuscht, dass er offensichtlich nicht nach ihr suchte. Sie musste daran denken, wie er ihr durch die Nacht geholfen hatte und still bei ihr gesessen war. So etwas hätte sie von niemandem erwartet, am allerwenigsten von Wolf.
Ein Pfiff schreckte ihn auf. Das Geräusch ließ sich mit keinem Vogelgezwitscher vergleichen, das er jemals gehört hatte. Als er aufsah und sich umschaute, woher es gekommen sein mochte, fiel sein Blick auf Kathryn, die auf dem Rand einer großen umgefallenen Eiche thronte und zwei Finger in ihren Mundwinkeln hatte, bereit, erneut zu pfeifen. Sie hatte ihre Beinkleider hochgekrempelt und die Füße unbekümmert in den eiskalten See getaucht, ohne auch nur im Mindesten wegen der Kälte das Gesicht zu verziehen. Er dachte sofort an die geheimnisvolle Wassernymphe, die ihre Arme zum Mond ausgestreckt hatte, schob diese Erinnerung aber rasch beiseite.
Wolf kletterte über den Stamm zu Kathryn hinüber und setzte sich auf die andere Seite des Astes, den sie als Rückenlehne benutzte. Er hätte sie am liebsten dafür erwürgt, dass sie ihm
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