Historical Exklusiv Band 06
Nicholas Spencer wieder zu Kräften gekommen war, musste er auf dem schnellsten Wege in die provisorischen Unterkünfte neben der halb fertigen Burg gebracht werden! Vielleicht konnte sie seine Anwesenheit ertragen, wenn es sich herausstellte, dass er nur gekommen war, um die englische Küste vor den Franzosen zu schützen, und er sie selbst und ihre französischen Partner samt ihren heimlich herbeigeschafften Waren in Ruhe ließ. Schließlich würde ihn die Bewachung der Festung und das Ausschauhalten nach dem Feind genug in Anspruch nehmen. Als Rosalind ein unterdrücktes Stöhnen und halblaute Worte hörte, sprang sie aus dem Bett. Waren es diese Geräusche gewesen, die sie geweckt hatten?
"Ja, ja, mein König … immer zu Diensten … Die Burg … sicher. Sagt es Penelope … Sicher … die Burg …"
Rosalind entzündete eine Talgkerze in einem Zinnleuchter. Als sie durch die Tür von Tante Bess' kleinem Gemach trat, war sie fast sicher gewesen, Kapitän Delancey dort vorzufinden. Doch der Kranke lag allein auf seinem Bett und murmelte unruhig vor sich hin.
"Ich enttäusche Euch nicht …" Die Worte waren fast nicht zu verstehen. "Die Burg … die Feinde aus Frankreich vernichten … und auch die Schmuggler …"
Rosalind hielt den Atem an. Der Fremde war schweißüberströmt, aber jetzt wandte er seinen Kopf und öffnete die Augen, so als sehe er seinen König vor sich, der ihn nach Deal geschickt hatte, nicht nur wegen der Franzosen – nein, auch wegen der Schmuggler! Sie zitterte am ganzen Körper, und die Schatten der Flamme tanzten über das Gesicht des Fremden.
"Ihr wart mir ein Vater, Majestät … ein Vater … Ich enttäusche Euch nicht … nieder mit Frankreich … mit den Schmugglern …"
Er schloss die Augen wieder und schien sofort in einen fiebrigen Schlaf zu verfallen. Rosalind sank auf den Stuhl neben dem Bett. Es war also alles noch viel schlimmer, als sie gefürchtet hatte! Dieser Mann war … war so etwas wie ein Pflegesohn des Königs! Und er war hier, um alle, die sie liebte, kannte und schützen wollte, zugrunde zu richten!
Rosalind richtete sich auf. Der Mann war schwach und hilflos. Er konnte durchaus in dieser Nacht sterben. Die schwere Kopfverletzung, das Fieber – niemand würde Verdacht schöpfen, wenn er einfach auf irgendeine Weise aufgehört hatte zu atmen. Er vertrat hier den König, stand für alles, was sie hasste. Der König hatte sich keinen Deut darum gekümmert, dass sie Murray verloren hatte und ihren Vater. Doch der Verlust eines ihm Nahestehenden würde ihn schwer treffen. Murray auf See geblieben und dieser Mann hier gerettet … das wäre nicht rechtens.
Sie erhob sich und stellte den Leuchter neben das Bett. Wie ein Blatt im Herbststurm erzitterte sie, presste die verschlungenen Hände gegen ihre Brust und beugte sich über den Fiebernden. Was immer er auch für sie verkörperte, er sah so schutzlos aus, so mitgenommen. Er hatte dem Untergang des Schiffes getrotzt und der brodelnden See. Sicher würde ein solches Erlebnis einen Menschen verändern, ihn demütig machen. Er würde erkennen, dass er gegenüber seinen Rettern eine große Dankesschuld abzutragen hatte, auch denjenigen gegenüber, die ihn gepflegt hatten …
Als ob sie nicht mehr Herr ihrer Entscheidungen wäre, berührte Rosalind seine Hand. Er umklammerte ihre Finger und murmelte etwas von seiner Mutter, die anscheinend Penelope hieß. Er hat eine Familie, die er liebt, genau wie ich, dachte Rosalind. Bei allen Heiligen, selbst solche Ungeheuer wie König Heinrich hatten natürlich auch eine. Aber so unschuldig und anrührend, wie der Fremde hier vor ihr lag, mochte sie nicht auf diese Weise über ihn denken. Vielleicht hatte er ein Weib, das er so herzlich liebte, wie sie selbst Murray geliebt hatte, und Kinder, die ihr versagt geblieben waren.
So stand sie eine Weile, von ihren Gedanken wie vom Sturm auf wilder See gepeitscht. Dann trocknete sie langsam sein schweißnasses Gesicht und horchte weiter auf sein undeutliches Gestammel. Sie sagte sich, sie sei nur hier, um mehr über sein Vorhaben auszukundschaften, doch sie wusste, dass es nicht der einzige Grund war. Solange er krank und schwach daniederlag, würde sie ihm helfen. Er war ihr Feind, und sie fühlte dennoch eine seltsame Fürsorglichkeit für ihn. Jetzt brauchte er sie. War er wieder genesen und erneut der aufbrausende Befehlshaber wie am gestrigen Tag, dann würde sie den Kampf mit ihm aufnehmen – auf Leben und Tod.
Zwei
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