Historical Exklusiv Band 06
groß, hatte breite Schultern und kräftige Hände, die wohl dazu geeignet waren, einen Degen zu führen. Und nun war es vorbei mit ihm.
Rosalind war sich sicher, dass dieser raue Mann kein bleichgesichtiger Höfling gewesen war, sondern ein Kämpfer. Sie schauderte bei dem Gedanken, dass sie es hätte mit ihm aufnehmen sollen, wenn es auch eine große Herausforderung gewesen wäre. Traurigkeit erfasste sie, dass dieser lebensvolle Mann in seinen besten Jahren die Erde hatte verlassen müssen.
Als sie wie vom Teufel besessen zum Ufer zurückruderten, erschien es Rosalind, als habe der Fremde sich bewegt. Doch es war wohl nur das Schwanken des Bootes gewesen. Bleich wie ein Ertrunkener sieht er eigentlich nicht aus, überlegte sie.
"Fühlt, ob sein Herz noch schlägt!" forderte sie den Soldaten auf, der neben seinem Kommandanten hockte.
Der Mann beeilte sich, der Anweisung zu gehorchen. "Ja!" rief er. "Ja, es schlägt noch, schwach. Käpt'n Delancey, ich glaube, Lord Spencer ist noch am Leben."
Delancey kroch näher, legte das Ohr auf die Brust des Fremden und nickte. Rosalind wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Wenn der Lord Lieutenant des Königs noch lebte, änderte das alles. Warum hatte sie sich um ihn gegrämt?
Doch es war jetzt keine Zeit mehr für verworrene Gedanken. Wieder an Land, kletterte Rosalind mit den anderen aus dem Boot, das von Helfern aus dem Dorf auf den Strand gezogen wurde. Die Verwundeten oder halb Ertrunkenen wurden in einen bereitstehenden Karren gehoben. Zwei Männer brachten den Lord Lieutenant in einem anderen Gefährt in den Ort, und Wat nahm Rosalind zu sich aufs Pferd.
Nachdem Rosalind sich getrocknet und umgezogen hatte, machte sie sich mit Wolfshunger über das heiße Schmorfleisch mit Brot her, das für alle bereitstand, die noch Kraft zum Essen hatten. Sie überließ die Versorgung der Verwundeten den erfahrenen und geschickten Händen von Tante Bess und Meg, denn in ihrem Kopf drehte sich alles. Erschöpfung quälte sie und noch mehr die Erinnerung an jene Nacht, in der die Leute von Deal auch Männer des Königs gerettet und so viel dabei verloren hatten. Sie starrte in das Feuer im Herd. In ihren Gedanken tanzten Licht und Schatten ebenso miteinander. Als sie sich etwas erholt hatte, erhob sie sich, um sich um den weiteren Fortgang der Dinge zu kümmern. Es galt vor allem, Sorge zu tragen, dass sich niemand an ihren auf dem Strand liegenden Ruderbooten vergriff.
Rosalind verließ die Küche und rief Alf zu sich. "Kümmere dich darum, dass die Boote diese Nacht bewacht werden", flüsterte sie. Alf nickte und entfernte sich eilig.
Die Leute drängten sich immer noch im Gasthof, sprachen über den Schiffbruch und über die missliche Art, in der der neue Kommandant und seine Truppe in Deal angekommen waren. Rosalind hörte, wie sich Franklin Stanway gegenüber dem Kapitän brüstete: "So fest und wehrhaft, wie wir die Burg auf Befehl Seiner Majestät bauen, ist es kein Wunder, dass nur eine solch kleine Besatzung für ihre Verteidigung gebraucht wird."
Rosalind ging auf die beiden zu und bemühte sich, ihre Gefühle im Zaum zu halten. "Ich schließe für heute, Sirs." Sie warf Stanway einen abweisenden Blick zu. "Die Schiffbrüchigen sind krank vor Kälte und von dem vielen Wasser, das sie geschluckt haben."
"Ich bleibe bei unserem Kommandanten", beharrte Kapitän Delancey, ein drahtiger blonder Mann. Er sah grau vor Erschöpfung aus und umklammerte ein großes Lederbündel, in dem Rosalind den Gegenstand erkannte, den der Lord Lieutenant am Körper getragen hatte. "Eure Muhme sagt, er braucht Pflege", fuhr er fort, "und ich will in der Nähe bleiben, falls er mich ruft. Sie wollte mir eine Kammer unter dem Dach einräumen, aber ich will lieber auf dem Boden in seinem Zimmer schlafen, und …"
"Wo hat man den Kommandanten untergebracht?" unterbrach ihn Rosalind. Es lief ihr kalt über den Rücken, als sie die Richtung wahrnahm, in die der Kapitän wies. Es war die Kammer von Tante Bess, direkt gegenüber von ihrer eigenen. Waren ihre Leute bar aller Vernunft gewesen? Es war schon schlimm genug, dass sich alles im Hauptquartier der Schmuggler abspielte, aber nun auch noch bei ihr gegenüber, in unmittelbarer Nachbarschaft ihrer Geheimnisse? Das war gefährlich!
Sie riss sich zusammen. "Kapitän, meine Tante hat Recht. Geht hinauf in die Kammer und schlaft, damit Ihr morgen Hilfe leisten könnt. Heute werden wir uns um den Kommandanten kümmern, seid
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