Historical Exklusiv Band 06
das konnte man selbst von hier aus sehen. Während er sich mit der einen Hand an die Bordwand klammerte, ließ er den letzten Mann hinab. Wie alle Vasallen des Königs war der Lord zweifellos begierig auf Ruhm. Doch wenn sie ihn und seine ganze Gattung auch noch so sehr verabscheute, konnte sie doch nicht umhin, die eiserne Ruhe zu bewundern, mit der er alle ihm anvertrauten Männer in das rettende Boot verfrachtet hatte.
Mit einem Krachen wie ein Kanonenschuss brach der Hauptmast der Fregatte und knallte unmittelbar neben dem Fremden auf Deck. Das Wrack neigte sich stärker und sank ein weiteres Stück. Er krallte sich an die Reling, die unter seinen Händen zersplitterte. Die Fangleine, die er sicherte, riss, und im selben Augenblick verschlang die See den vorletzten Mann.
"Alf, zieh ihn raus!" brüllte Wat. "Ihr anderen lasst die Enterhaken los! Jetzt!"
Rosalinds Haken ruckte unter ihrem festen Griff, als die anderen losließen. Hatte Wat für sie die Entscheidung getroffen, für die sie zu feige gewesen war? Hatte er das Wrack seinem Schicksal preisgegeben, damit es mitsamt dem Lord Lieutenant unterging? Entsetzt sah sie, wie das Heck im Meer verschwand, die kochende See mittschiffs einbrach.
"Nein!" hörte sie sich schreien. Einer der geretteten Matrosen zu ihren Füßen riss bei dem Klang einer weiblichen Stimme überrascht den Mund auf. Aber ihr Schrei wurde erstickt von dem Stöhnen des Schiffes, das unaufhaltsam in sein nasses Grab sank.
"Mylord Spencer!" Einer der Soldaten fiel auf die Knie, als wolle er dem todgeweihten Kommandanten ein Gebet nachsenden.
Beeindruckt von seiner Tapferkeit schrien die Männer im Boot durch den Sturm: "Springt! Springt!" Alf und Wat hatten inzwischen den letzten Matrosen aus dem Wasser gezogen und auf den Boden des Bootes gelegt.
"Rudert! Rudert mit aller Kraft, sonst reißt uns der Strudel mit!" schrie Wat. Rosalind hielt das Ruder umklammert und sah, wie im letzten Augenblick der Fremde von Bord sprang. Irgendetwas Unförmiges hatte er sich um den Körper geschlungen. Mit einem Satz landete er in dem weißen Gischt, der das sinkende Schiff umgab.
Angestrengt durchforschte Rosalind mit den anderen die tobenden Wellen. Verzweiflung erfasste sie. Was, wenn der rachesüchtige König sie für den Verlust dieses Mannes verantwortlich machte? Sie wollte ihn nicht in Deal haben. Lieber sollte die ganze französische Armee anrücken! Und dennoch musste sie ihn retten.
Rosalind starrte weiter in die windgepeitschten Wogen. Nur wenige Menschen verstanden es zu schwimmen. Wahrscheinlich war der Fremde untergegangen. Da entdeckte sie an der Stelle, wo das Schiff versunken war, einen schwarzen Gegenstand.
"Dort drüben, Wat!" rief sie und wies mit der Hand in die Richtung. "Ein Mensch? Der Mann des Königs?"
Er war es in der Tat. Doch er trieb schlaff dahin, mit dem Gesicht im Wasser. Eine dunkle Welle trug ihn hinweg. Die Rettungsmannschaft ruderte ihm nach. Der Sog um das vom Meer verschlungene Schiff hatte sich gelegt. Alf holte den leblosen Körper des Fremden mit dem Ruder heran, und während die übrige Besatzung das Boot im Gleichgewicht hielt, zog er den treibenden Körper herauf.
"Tot, großer Gott, tot! Der Kopf verletzt, ertrunken", hörte Rosalind ihn murmeln.
Sie fühlte sich leer, obwohl sie so vielen Menschen das Leben gerettet hatte. Die Männer holten den Ertrunkenen an Bord und betteten ihn auf den Boden. Trotz der Erschlaffung des Todesschlafes beeindruckten sie Größe und Ausstrahlung der Persönlichkeit des Fremden. Seine linke Schulter lehnte schwer gegen Rosalinds Stiefel, aber es war kein Raum, um ihr auszuweichen. Sie sah die Blutspuren an seinem Kopf und konnte den Blick nicht von ihm wenden. In ihren Augen mischte sich das Salzwasser des Meeres mit ihren Tränen.
Inmitten des Aufruhrs der Elemente ging etwas Besonderes von dem Mann aus. Wenn er auch voller Dünkel gewesen war, seinen Mut und seine Opferbereitschaft muss man anerkennen, gestand sie sich widerwillig ein. Seine Haut war gebräunt. Also musste er viel im Freien gewesen sein und nicht nur in dem üppigen Palast des Königs. Ein energisches Kinn, dichtes ebenholzfarbenes Haar, rabenschwarze Brauen, ein schmaler, fester Mund – er war eine imponierende Erscheinung! Seine Nase schien irgendwann einmal gebrochen worden zu sein, denn sie sah etwas krumm aus. Seltsamerweise wünschte sich Rosalind, die Farbe seiner Augen feststellen zu können. Sie mussten dunkelbraun sein. Er war
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