Historical Exklusiv Band 06
führte ihm seine eigenen Schwächen auf diesem Gebiet nur zu deutlich ins Bewusstsein.
Einst hatte er geglaubt, ein Mädchen mit spitzbübischem Lächeln und vollem, weichem braunen Haar zu lieben. Jetzt erkannte er in diesem Gefühl die jugendliche Schwärmerei, die es tatsächlich gewesen war. Dorcas hatte in ihm die Leidenschaft geweckt. Die Frauen, mit denen er sich seither eingelassen hatte, hatten seine Sinne erregt.
Sarah aber hatte seine Seele berührt.
Er rückte auf dem schäbigen Ledersitz hin und her und wusste nicht, wohin mit seinen Händen. Zu gern hätte er sie in die Arme genommen und ihr die Sorgenfalten von der Stirn geküsst. Doch sie verlangte nicht nach seinem Trost. Sie verlangte nach ihrer Familie.
Als er Sarah am folgenden Nachmittag beim Aussteigen aus der Kutsche half, die sie für die Fahrt nach Barrowgate gemietet hatten, fühlte James, wie ihre Hand in dem Handschuh zitterte. Unter der Krempe ihrer warm gefütterten Haube, die mit Federn üppig verziert war, suchte ihr Blick die menschenleere Umgebung der "Barrowgate School for Young Gentlemen" ab.
Es gab keine Jungen, die unter den wachsamen Blicken eines Tutors über den Hof zu den Klassenräumen marschierten. Keine Rufe und kein Lachen drangen von den Kricketplätzen hinter den Schulgebäuden herüber. Und kein Direktor eilte herbei, um sie zu begrüßen.
Sarah blickte zu dem verlassenen Schulhof hinüber. Sie grub ihre Finger in James' Arm. "Wenn wir erfahren, dass der Direktor an einer Magenkolik gestorben ist, an einem Schlag auf den Kopf oder einem anderen tragischen Unfall, und man alle Jungen fortgeschickt hat, dann … dann werde ich schreien!"
Master Tipton-Smythe lebte durchaus noch, wie ihnen sein ältlicher Assistent schon bald mitteilte, aber er hatte Barrowgate verlassen, um die Osterferien mit Verwandten zu verbringen, genau wie die meisten der Jungen.
"Und meine Brüder?" fragte Sarah, und Hoffnung und Furcht drohten ihr den Atem zu rauben. "Sind sie hier, oder sind sie nach Sussex gegangen, um die Zeit mit ihrer Schwester und ihren Cousins zu verbringen?"
"Sie sind fort, aber ich glaube nicht …" Der ältere Lehrer tippte mit einem Finger gegen seine Lippen. "Nein, nein wirklich, ich glaube nicht, dass sie nach Sussex gegangen sind. Ich müsste ihren Klassenlehrer fragen, um ganz sicher sein zu können, aber ich glaube, ja, ich glaube fast, sie gingen nach Ryde."
"Nach Ryde?"
Sarah starrte den Mann verständnislos an. Die Abernathys hatten keine Verwandten in Ryde, von denen sie wusste, und sie konnte sich keinen Grund vorstellen, warum die Jungen während der Ferien dorthin gegangen sein sollten.
"Wer hat sie nach Ryde gebracht?"
"Nun, ich kann natürlich erst vollkommen sicher sein, wenn ich ihren Klassenlehrer gefragt habe, aber ich glaube … ja, ich glaube, die Frau stellte sich als ein Familienmitglied vor."
Sarahs Kehle war wie zugeschnürt. "Wer? Wer war sie?"
"Ich kann es erst mit absoluter Sicherheit sagen, wenn …"
"Wer war sie?" rief Sarah. Sie riss sich von James' Arm los, ging zu dem Lehrer und stellte sich vor ihn hin. "Wer war die Frau?"
Der Mann stolperte rückwärts. Überraschung und Furcht veranlassten ihn, die Brauen hochzuziehen. "Ich glaube …" Er schluckte schwer. "Ja, ich glaube, wenn ich mich recht erinnere, sie nannte sich Mistress Burke."
"Mistress Burke?"
Während Sarah den bebenden Mann noch fassungslos anstarrte, ergriff James das Wort. "War diese Mistress Burke jung, mit blondem Haar und himmelblauen Augen?"
Der grauhaarige Lehrer seufzte, und ein weicher, wehmütiger Ausdruck erschien auf seinem faltigen Gesicht. "Sie war das himmlischste Geschöpf, das jemals seinen Fuß in die ,Barrowgate School for Young Gentlemen' gesetzt hat."
Sarah fühlte sich wie eine Marionette, der man die Fäden abgeschnitten hatte, und saß wie gelähmt neben James, als sie ihre Reise fortsetzten, die niemals ein Ende zu nehmen schien.
Das Küstendorf Ryde lag auf der Isle of Wight, beinahe direkt gegenüber von Portsmouth, auf der anderen Seite des Sunds. Sie und James hatten einen ganzen Tag damit vergeudet, nach Norden zu reisen, und nun mussten sie umkehren und geradewegs in die andere Richtung zurückreisen.
"Mistress Burke?" murmelte sie, während die Mietdroschke nach Süden ratterte. "Die arme Abigail. Wie furchtsam, wie verzweifelt muss sie gewesen sein, um Liam Burke zu heiraten."
"Sie hätte es schlimmer treffen können, Sarah. Viel schlimmer." James streckte seine
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