Historical Exklusiv Band 42
verschwand außer Sicht.
Plötzlich kam Talitha der Gedanke, was Nick wohl für ein Gesicht machen würde, wenn er sie jetzt sähe, und sie schmunzelte verschmitzt. Wie lauteten doch seine Abschiedsworte? Er hoffe, sie würde nichts Unanständiges oder Dummes anstellen? Wie würde er es wohl finden, dass sie in der Oper mitten zwischen den Chorsängerinnen in der Garderobe saß?
Millie stand auf, drückte sich einen flotten Hut auf den Kopf und nahm einen mit Bändern umwickelten Hirtenstab in die Hand. „Also gut, los geht’s. Ich bin in der ersten Szene eines von den Dorfmädchen.“
In einen Winkel des Seitenflügels gequetscht, verbrachte Talitha eine unglaublich aufregende nächste halbe Stunde. Angerempelt, angebrüllt, schockiert und halb taub sah sie wie gebannt der Vorstellung zu. Schließlich senkte sich der letzte Vorhang, und das Ensemble stürmte von der Bühne, schweißnass und erschöpft, doch ganz offensichtlich darauf aus, ihren Erfolg bis zum Morgengrauen zu feiern.
„Komm.“ Millie zog Talitha am Arm mit sich. „Ich muss mich umziehen, bevor sie die Ersten hereinlassen.“
„Wen?“ Talitha betätigte sich nebenbei als Garderobiere. Sie hakte Millies Kostüm auf und reichte ihr in Gänsefett getunkte Wattebäusche, damit sie sich das Make-up entfernen konnte.
„Hier kommen sie alle hin: Adlige, neugierige Straßenjungs, Kulissenschieber, Dandys der Oberschicht“, erklärte Millie ruhig. „Ich ermuntere natürlich keinen, aber die meisten der Mädchen haben so ihre Anhängerschaft.“
„Sie werden hier hineingelassen?“ Talithas Stimme überschlug sich beinahe. „Können wir gehen, bevor es so weit ist?“
„Wenn ich mich sehr beeile.“ Millie schlüpfte in ihre Petticoats und griff nach einem Ausgehkleid, das neben ihr an einem Haken hing. „Normalerweise bin ich nie fertig, bevor sie alle kommen. Na ja, solange ich anständig angezogen bin, ist es mir eigentlich egal. Ich mache einfach weiter, frisiere mir die Haare und so.“
Ungeduldig trat Talitha von einem Bein aufs andere. Sie wünschte, sie wüsste, wie sie Millie helfen konnte, schneller fertig zu werden. Hier von einer Meute liebeskranker junger Männer überfallen zu werden – damit hatte sie nicht gerechnet. Den halbherzigen Bemühungen einiger Mädchen nach zu urteilen, die sich mit bemerkenswerter Langsamkeit umzogen, wurde von keinem der Besucher erwartet, dass sie ihre Meinung über die Aufführung kundtaten.
„Wo sind meine Schuhe?“ Millie ging in die Knie und musterte den Boden. „Oh nein, ich habe einen bis auf die andere Seite gekickt.“ Sie krabbelte unter den Tisch, ihrem fehlenden Schuh hinterher, und überließ Talitha sich selbst. Die Tür schwang auf, und eine Horde Männer stürmte hinein.
Sie waren in gefährlich übermütiger Stimmung, halb betrunken, Champagnerflaschen in den Händen und mehr als bereit für jedwede Art von Vergnügung, die ihnen von den Chormädchen gewährt würde. Talitha verbarg sich hinter einem Ständer voller Kostüme. Sie erstarrte, als auf der anderen Seite des Spiegels plötzlich eine bekannte Stimme ertönte. „Na, so etwas, Miss LeNoir! Ich bin entzückt, Sie zu sehen. Ihr Auftritt heute Abend hat mir ausnehmend gut gefallen.“ Hemsley. Talitha drückte sich mit dem Rücken gegen die Wand, doch dann kam ihr der Gedanke, dass sie Millie, die sich durch die Komplimente offensichtlich geschmeichelt fühlte, nicht im Stich lassen durfte. „Ihre Stimme wird besser und besser“, lobte er sie in vertraulichem Tonfall. „Ich war ja schon immer der Meinung, dass Sie nicht in den Chor gehören. Zufällig kenne ich den Mann, der die Aufführungen in der Drury Lane leitet. Ich bin sicher, dass er sie anhören würde, mir zum Gefallen. Warum lassen Sie mich Sie nicht nach Hause fahren heute Abend, damit wir darüber sprechen können? Sie wollen doch nicht bei diesem Mittelmaß bleiben – das gehört sich nicht für eine Künstlerin wie Sie.“
„Oh, vielen Dank, Mr Hemsley, aber ich kann heute Abend nicht mit Ihnen fahren. Außerdem, sollten Sie nicht lieber zu Hause bleiben in Ihrem Zustand? Sie haben sich offenbar verletzt. Was ist denn geschehen?“
Auf Zehenspitzen schlich sich Talitha näher an die behelfsmäßige Wand aus Spiegeln.
„Halunken, meine Liebe, mindestens sechs an der Zahl. Ich hatte natürlich meinen Stock und muss mich selber für meinen schlagkräftigen rechten Haken loben, dennoch hat es eine Weile gedauert, bis ich …“
Er brach ab
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