HISTORICAL JUBILÄUM Band 03
hörte, dass der Riegel vorgeschoben wurde. Dann begab er sich zu seinem Nachtlager bei der Mannschaft und ging an den schlafenden Matrosen vorbei zu seiner Hängematte. Rasch hüllte er sich in seine Decke und rollte sich zusammen. Mit einem Schulterzucken versuchte er, seine Gewissensbisse abzutun, und war schon bald eingeschlafen.
In der anderen Ecke des Raums lag Gryf in seiner Hängematte und hing seinen Gedanken nach. Er hatte den alten Mann hereinkommen hören. Neben ihm seufzten die Männer im Schlaf, und Fielding, der dicke Koch, schnarchte. Doch er selbst fand keinen Schlaf. Seine Gedanken kreisten unentwegt um Darcy Lambert.
Was hatte es mit dieser Frau auf sich, dass er immerzu an sie denken musste? Ähnelte sie jemandem, den er gekannt und geliebt hatte? War er womöglich jener Mann, dem sie nachtrauerte? Es schien mehr als unwahrscheinlich. Mit dem Namen, den Newt ihm genannt hatte, konnte er nichts anfangen. Außerdem war ihr Geliebter mit einem Schiff untergegangen. Und seine Wunden hatte er sich bei einem Brand in einer Schenke zugezogen.
Dennoch hatte er sich sofort zu dieser Frau hingezogen gefühlt. Gleich am ersten Abend, als er sie in der Schankstube gesehen hatte, war sie ihm anders als alle übrigen Frauen vorgekommen. Statt der sittsamen Kleider, die sämtliche Frauen im Dorf trugen, war sie mit ihren Hosen und Stiefeln wie ein Seemann gekleidet gewesen. Und sie hatte ihr goldenes Haar offen getragen, anstatt es unter einer Haube zu verstecken. Kein Wunder, dass sie ihm aufgefallen war. Jeder Mann in der Schenke hatte sie bemerkt. Er hatte sie äußerst anziehend gefunden; aber er hatte sie nicht wiedererkannt.
Gryf rollte sich auf die Seite und suchte eine bequeme Lage. Er nahm es Newton nicht übel, dass er ihn gewarnt hatte. Der alte Mann liebte Darcy. Er hatte das Recht, auf sie achtzugeben, insbesondere da sie sich in einer Männerwelt befand.
Wie merkwürdig, dass sich jemand mit dieser goldenen Haarpracht und Augen, die blauer als der Himmel waren, für einen solchen Beruf entschieden hatte. Denn in einem eleganten Kleid und an einem prunkvollen Ort würde man sie sicherlich für eine Königin halten. Doch selbst die grobe Kleidung eines Seemanns vermochte ihre Schönheit nicht zu schmälern; eine Schönheit, die mit einem eisernen Willen verbunden war, der ihr half, das Leben, das sie sich ausgesucht hatte, zu meistern.
Dennoch, trotz ihrer Fähigkeiten als Seefahrer war sie voller Unschuld, was Männer betraf. Sie mochte vielleicht einen jungen Burschen geliebt haben, aber sicherlich keinen Mann. Nicht in der Weise, wie eine Frau einen Mann liebt. Das verriet ihm die Art, wie sie küsste. Es schien, als hätten ihre Lippen nie zuvor die Lippen eines Mannes berührt. Er dachte daran, wie sie auf seine fordernden Küsse ansprach – mit einem blinden Vertrauen, das liebenswert und bedenklich zugleich war.
Trotz allem war sie keineswegs eine hilflose Frau. Er hatte gesehen, wie gut sie sich aufs Kämpfen verstand. Es gab keinen Mann an Bord, der ein Messer so treffsicher wie Darcy werfen konnte. Den Degen hatte sie mit der gleichen Geschicklichkeit geschwungen. Fürwahr, wenn es zu einem Gefecht mit eingefleischten Schurken käme, hätte er lieber Darcy Lambert an seiner Seite als irgendeinen anderen Seemann.
Alles in allem war sie eine höchst erstaunliche Frau. Kein Wunder, dass er sich zu ihr hingezogen fühlte. Er öffnete die Augen und sah einen dünnen Strahl des Mondlichts über die Decke flimmern. Ja. Er fühlte sich nach wie vor zu ihr hingezogen, obgleich er wusste, dass sie einen anderen Mann geliebt und verloren hatte. Und jetzt, da er gewarnt worden war, dass seine wahre Identität sie womöglich verwirren könnte, fragte er sich, was dabei sein sollte. Er hatte sie wissen lassen, dass er Gryf war. Ein einfacher Seemann. Und dass er sich zu ihr hingezogen fühlte.
Er lächelte in die Dunkelheit hinein. Es war gar nicht so schwer gewesen, zu einer Entscheidung zu kommen. Vielleicht war das der größte Vorteil an einem Gedächtnisverlust, dass er nicht mehr wusste, ob er nach den Regeln anderer Leute gelebt hatte oder bloß seinen eigenen gefolgt war.
Jetzt stellte es ihn zufrieden, die Regeln selbst zu bestimmen. Jeden Tag aufs Neue. Insbesondere dann, wenn es um Darcy Lambert ging.
Schließlich schlief er erleichtert ein.
„Wir bleiben heute hier im Hafen und erledigen die notwendigen Reparaturen, Leute“, sagte Newton zu den Männern, die einen Kreis um den
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