Historical Saison Band 06
wüsste es zu schätzen, wenn du mir deinen Arm leihst, damit ich eine Runde über die Aussichtsplattform drehen kann. Ich warte schon den ganzen Nachmittag auf die stützende Begleitung eines Gentlemans. Komm! Dann kannst du mir alle markanten Punkte in der Umgebung zeigen.“
Zu Amys Überraschung erhob der Hausherr keinen Protest, auch wenn sein Gesicht eine rote Färbung angenommen hatte. Vielleicht wagte er nichts zu sagen aus Furcht, die alte Dame zu kränken. Er verbeugte sich nur und bot ihr den rechten Arm.
„Danke, Anthony“, sagte Miss Lyndhurst mit strahlendem Lächeln. Sie wies mit dem Hörrohr in die grobe Richtung des Sees. „Was für eine Ausdehnung dieser See hat. Gibt es dort viele Forellen?“
Marcus hörte Schritte im Schlafzimmer, und dann drehte sich der Schlüssel im Schloss herum. Er hielt den Atem an. War der entscheidende Moment gekommen?
Die Tür öffnete sich. „Ich nahm an, dass Sie einen Happen essen wollen, Mr Marcus?“
Timms! „Ist das meine letzte richtige Mahlzeit, bevor ich nur noch Wasser und Brot bekomme, Timms?“
Der Kammerdiener stellte das Tablett auf ein Tischchen. „Dazu kann ich nichts sagen, Sir. Der Major ist heute … nicht ganz er selbst. Offenkundig hat er gestern Abend zu viel Brandy getrunken. Ich nehme an, dass ihn etwas schwer beunruhigt.“ Timms warf einen Seitenblick auf Marcus. „Ich kann mir nicht vorstellen, um was es sich handelt.“
Marcus lachte laut auf. „Sie sind ein alter Spitzbube, Timms. Darf ich aus Ihren Worten schließen, dass der Major heute einen Kater hat?“
„Ich würde niemals wagen, so etwas zu behaupten, Sir.“
„Wie hat er geschossen?“
„Nun …“ Timms zögerte. „Ganz offen gestanden war heute nicht der Tag des Majors. Zumindest gemessen an seinen sonstigen Zielkünsten.“
Marcus grinste. Der arme Anthony. Wenn er es mit dem Brandy übertrieben hatte, litt er wahrscheinlich unter entsetzlichen Kopfschmerzen. Das erklärte allerdings auch, weshalb er so fest geschlafen hatte, dass er Amys Besuch im Ankleidezimmer nicht mitbekommen hatte. Wenn ich das bloß vorher gewusst hätte. Dann wäre uns einiges an Angst erspart geblieben .
„Und was geschieht jetzt, Timms? Meine Aburteilung wurde gestern Abend verschoben. Findet sie nun heute Abend statt?“
„Ich weiß es nicht, Mr Sinclair. Ganz ehrlich nicht. Der Major hatte vor, sich darüber mit Seiner Lordschaft zu beraten. Mehr kann ich Ihnen nicht dazu sagen.“
„Sie meinen, er wollte mit Lord Mardon reden?“
„Jawohl, Sir. Ich glaube aber nicht, dass er es bereits getan hat. Dass wir im Haus einen Mann verstecken, der vor der Justiz auf der Flucht ist, wird Seine Lordschaft sicher sehr bedenklich finden.“
Marcus versuchte, ein ernstes Gesicht zu machen. Das entsprach allerdings nicht seiner Gefühlslage. Er kannte John als einen aufrechten und besonnenen Mann. Er würde dafür Sorge tragen, dass Anthonys Temperament nicht mit ihm durchging. Sofern John mit einbezogen wurde, konnte er mit einer gerechten Anhörung rechnen – egal was anschließend passieren würde.
Marcus drückte den Rücken durch und blickte hungrig auf das Tablett mit den appetitlich angerichteten Speisen. „Danke, Timms. Ohne Sie wäre ich in diesem Zimmer beinahe verhungert!“
7. KAPITEL
Als Amy den Fuß der Wendeltreppe erreichte, war es schon sehr spät – viel später, als sie ursprünglich geplant hatte. Sie nahm die Brille ab und steckte sie in ihre Rocktasche. Die Kerze mit einer Hand umschirmt haltend stieg sie nach oben. Ist Marcus noch dort? Hat er so lange gewartet?
In der Kuppel befand sich niemand. Offenkundig hatte er ihr nicht genug vertraut, um abzuwarten.
Sie blieb auf der obersten Stufe stehen und hielt sich am Metallgeländer fest. Sie musste ihn dringend finden und ihm alles erzählen.
„Amy!“ Sie bemerkte seine Silhouette an der offenen Tür, die auf die Aussichtsplattform führte. Er schloss die Tür, trat auf Amy zu und zog sie ohne ein weiteres Wort zu verlieren an einer Hand hinter die letzte Rundbank. Dort hatte er ein paar der langen Lederkissen ausgebreitet, die sonst auf den Bänken verteilt lagen. Sie wirkten ein wenig verknautscht, denn er hatte sich wohl der Länge nach darauf gelegt, während er auf sie gewartet hatte.
Er blies ihre flackernde Kerze aus und stellte den Kerzenhalter auf dem Boden ab. „Das dürftige Kerzenlicht brauchen wir gar nicht. Sehen Sie nach oben. Der Himmel ist von hellen Sternen übersät.“
Amy setzte
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