Historical Saison Band 19
selbstbewusster und nachdenklicher Gentleman werden würde? Was auch immer sie ihm damit angetan hatte, nicht an die Stärke ihrer Liebe im Kampf gegen all die Widrigkeiten zu glauben, wenigstens hatte sie ihn dadurch nicht zu einem Schwächling gemacht. Sie fragte sich unwillkürlich, wie ihr Dasein jetzt aussehen würde, wenn alles damals wie geplant verlaufen wäre. Würden sie wirklich so leben, wie sie es sich erträumt hatten, als sie sich vor vielen Jahren Hals über Kopf ineinander verliebten?
Mittlerweile wäre ich gewiss die Mutter einer wachsenden Kinderschar, und er wäre mein Lord Sylbourne – zuweilen ernst und verantwortungsvoll, wenn er im House of Lords spricht oder die anderen Aufgaben eines mächtigen Aristokraten erfüllt, während er nach und nach Ordnung in das Chaos bringt, das sein unberechenbarer Vater den Vanes hinterlassen hat. Vielleicht würde er manchmal den enormen Ballast beiseiteschieben und so unbeschwert wie früher sein – mit den Kindern lachen und seine Gattin liebevoll aufziehen, weil die nächste bevorstehende Geburt ihren Leibesumfang derartig vergrößerte, dass sie beinahe so breit wie hoch war …
Sie musste sich von den Gedanken daran, was alles hätte sein können, lösen, denn sich verspürte einen fast körperlichen Schmerz, wenn sie sich die Leere vor Augen führte, die ohne ihn von ihr Besitz ergriff. Niemals würden diese gemeinsamen Kinder das Licht der Welt erblicken. Die Liebe, die ihnen einst das Leben hätte schenken können, war kalt und tot wie das Wetter draußen, und sie trug die Schuld daran. Sophie erschauerte und kam zu dem Schluss, dass die berauschende Wärme und die geradezu tollkühnen Versprechungen dieses letzten kurzen Sommers in Holm Park im Nachhinein ebenso unwirklich waren wie eine Hitzewelle im Januar. Warum nur hatte sie sich in der vergangenen Nacht diesen unsinnigen Erinnerungen hingegeben?
Dass Miss Garret-Lowden ihre schmachtenden Blicke kaum vom Earl of Sylbourne abwenden konnte, vermochte Sophie nachzuvollziehen, wenn sie sich vor Augen führte, wie leicht er ihr mit seinen Küssen bewiesen hatte, dass ihre vermeintliche Gleichgültigkeit im entscheidenden Moment keinerlei Bestand hatte.
Doch was sie zunehmend aufbrachte, war Miss Garret-Lowdens unübersehbarer Versuch, mit Peter zu flirten. Sie legte die Hände in den Schoß und starrte hinaus in den Schnee, um sich zu beruhigen. Es ist einfach die Wut darüber, dass die junge Frau es wagt, sich schamlos im Kreise von Timon Fraynes Familie bei Peter anzubiedern, und noch dazu unter den Augen der ältesten Schwester ihres Verlobten! redete sie sich ein. Sie bemühte sich, die verschneite Landschaft zu betrachten und die entsetzliche Vorstellung, Peter könne an ihrer statt Livia küssen, aus den Gedanken zu verbannen. Immerhin gelang es ihr, die Tränen zu unterdrücken, die sie für Tränen des Zorns hielt. Nachdem sie eine Weile wie betäubt durch das Fenster gesehen hatte, bemerkte sie schließlich, dass nur noch wenige Schneeflocken durch die Luft schwebten.
„Es sieht fast so aus, als könnten wir jetzt alles verfügbare Grün aus Sir Gyffard Fraynes Wäldern holen, wie Miss Audrey es von uns verlangt. Oder irre ich mich, Cousine?“, fragte Peter, und als Sophie so unvorsichtig war, ihn anzusehen, schenkte er ihr ein verwegenes Lächeln, das sie derartig blendete, dass sie zurücklächelte, bevor der Verstand ihr Gegenteiliges befehlen konnte.
„Ja, in der Tat“, pflichtete sie ihm bei und schüttelte den Kopf, als würde sie dadurch wieder zu sich kommen und aufhören, ihn wie ein dummes Schulmädchen anzustarren. „Ich werde dafür sorgen, dass uns ein leichtes Mittagessen serviert wird und dann Viola und Audrey suchen, um ihnen die gute Nachricht zu verkünden. Hoffentlich kann ich die beiden davon abhalten, hinaus in den Schnee zu laufen, bevor sie wenigstens Handschuhe angezogen haben, um sich vor der Kälte zu schützen.“
„Was würdest du bloß tun, wenn du nicht ständig einen Anlass zur Beschäftigung hättest, Cousine?“, erkundigte sich Peter spöttisch, und sah, dass sie errötete.
Sie wünschte, Mrs Garret-Lowden und ihre Tochter würden nicht begierig jedem Wort lauschen, das der Earl of Sylbourne und die Gouvernante der Fraynes miteinander wechselten, auch wenn ihnen jetzt die Möglichkeit verwehrt war, sie offen in seiner Gegenwart zu erniedrigen.
„Auf jeden Fall gebe ich den Mädchen gleich Bescheid“, wiederholte sie etwas gefasster.
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