Historical Saison Band 20
Ehe erst mit ihrem sechzehnten Geburtstag vollzogen werden konnte, also hätten sie Zeit gehabt, sich kennenzulernen, Freunde zu werden, sich vielleicht sogar ineinander zu verlieben. Ihre Vorstellungskraft hatte allerdings nicht gereicht, sich auszumalen, was danach geschehen wäre. Jedenfalls hätte sie sich nicht die Art von Gefühlen erträumen können, die sie in Paris erlebt hatte – unvergesslich aufregend. Die Tatsache, dass diese Momente in Paris Anthony nichts bedeuteten, machte alles nur noch entsetzlicher.
Wie Claudia schlief auch Anthony nur wenig in jener Nacht, stand aber am nächsten Morgen wie gewohnt früh auf. Ein Blick aus dem Fenster zeigte ihm einen herrlichen Wintermorgen eines sehr schönen Tages – eine gute Gelegenheit, sich ein wenig umzusehen. Zweifellos hatte es während seiner langen Abwesenheit viele Veränderungen auf Oakley Court gegeben. Er wandte sich vom Fenster ab und beobachtete, wie Matthew am anderen Ende des Zimmers heißes Wasser in eine Schüssel schüttete. Der Kammerdiener beendete seine Aufgabe und drehte sich um.
„Soll ich Sie rasieren, Mylord?“
Anthony nickte. Es war die unangenehmste Aufgabe des Tages für ihn. Die Narben in seinem Gesicht machten das Rasieren zu einer langwierigen, heiklen Angelegenheit. Allerdings arbeitete Matthew zum Glück mit so sicherer Hand, dass er die lästige Pflicht erträglich machte. Während sein Kammerdiener also begann, gab Anthony sich seinen Gedanken hin. Seine Rückkehr wäre in jedem Fall voller Schwierigkeiten verlaufen, doch wie sehr er davon betroffen sein würde, hatte er nicht geahnt. Auf seinen Beschluss, bei ihr zu bleiben, hatte seine Ehefrau mit einem stürmischen Abgang reagiert. Er war sehr versucht gewesen, ihr zu folgen, aber ihm war klar, wie dumm das gewesen wäre. Claudia war nicht in der Stimmung gewesen, ihm zuzuhören, und da er schon Kostproben ihres feurigen Temperaments bekommen hatte, hatte ihn ihre Reaktion nicht wirklich überrascht. Und natürlich war sie auch verständlich. Nachdem Claudia so viele Jahre ihre Unabhängigkeit genossen hatte, musste es ein böser Schock für sie sein, sich wieder der Kontrolle eines Ehemannes beugen zu müssen. Lieber wäre er behutsamer vorgegangen, aber ihre Verbindung mit Genet und seinesgleichen hatte ihn zum Handeln gedrängt.
Was ihre Ehe anbelangte, war es ihm ebenfalls sehr ernst, trotz Claudias ungläubiger Empörung. Seine schöne Frau würde sich eben an seine Gegenwart gewöhnen müssen.
Als er schließlich nach unten ging, hatte sie bereits gefrühstückt und war fort. Doch Anthony ließ die Tür zum Arbeitszimmer offen und konnte so beobachten, wer die Halle durchquerte, bis es ihm schließlich gelang, Claudia abzufangen.
„Ich muss um einige Minuten deiner Zeit bitten, Claudia.“
Sie blieb abrupt stehen, den Blick finster auf die hochgewachsene Gestalt in der offenen Tür gerichtet. Ein Gespräch mit ihrem Mann war im Moment das Letzte, was sie sich wünschte. „Kann das nicht ein wenig warten? Ich bin heute Morgen ziemlich beschäftigt.“
„Leider nicht.“
Verdrossen biss sie sich auf die Unterlippe, versucht, einfach weiterzugehen. Doch dann sagte sie sich, dass das nicht klug wäre. Gestern Abend hatte er es ihr vielleicht durchgehen lassen, aber gewiss kein zweites Mal. Also wandte sie sich um und ging auf das Arbeitszimmer zu. Anthony trat beiseite, um sie einzulassen, und schloss dann die Tür hinter ihnen.
Sich seiner Nähe nur allzu bewusst, blieb Claudia vor dem Schreibtisch stehen und musterte ihren Gatten mit, wie sie hoffte, sorgloser Gleichgültigkeit. „Was ist los?“
„Es gibt Dinge, die ich gestern Abend nicht die Gelegenheit hatte, dir zu sagen.“
„Wirklich? Ich dachte, wir hätten das Wichtigste besprochen.“
„Noch lange nicht.“
„Was haben wir denn ausgelassen?“
„Mein Gespräch mit Genet.“
„Genet?“ Das hatte sie nicht erwartet. „Was ist mit ihm?“
„Bis jetzt weiß er noch nicht, wie viel über das Agentennetz durchgesickert ist. Obwohl du Paris rechtzeitig verlassen konntest, ist es möglich, dass deine Identität dennoch bekannt ist.“
Sie runzelte die Stirn. „Wie kann das sein?“
„Du hast unseren Abschnitt der Küste für die Zwecke des Geheimdienstes zur Verfügung gestellt. Das Haus ist in der Nachbarschaft bekannt. Es wäre ein Kinderspiel, den Namen des Besitzers herauszufinden.“
Die Vorstellung war bestürzend. „Dafür müsste der Verräter ein Engländer
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