Historical Saison Band 20
ekstatischer männlicher Schreie brachten Claudine wieder in die Gegenwart zurück. Sie schaute kurz zu der geschlossenen Tür hinüber, hinter der der Mann zu hören war, und sah hastig wieder fort. Madame Renaud lächelte. „Estelle weiß, wie man einen Mann beglückt.“ Sie schien ihre Verlegenheit zu bemerken, denn sie hob eine Augenbraue. „Sie sind doch nicht etwa schockiert? Immerhin sind Sie eine verheiratete Frau.“ Sie warf einen Blick auf Claudines Ehering. „Der einzige Unterschied ist, dass wir dafür bezahlt werden.“
Claudine erwiderte nichts. Sie mochte ja eine verheiratete Frau sein, dennoch wusste sie nicht, was es bedeutete, einen Mann auf diese Weise zu beglücken. Welche raffinierte Kunst konnte die Art von Lust hervorrufen, die sich in solchen Schreien ausdrückte? Wahrscheinlich würde sie es nie erfahren. Mühsam konzentrierte sie sich auf ihre Aufgabe, verärgert drüber, dass sie sich von so etwas hatte ablenken lassen. Anständige Frauen dachten nicht über solche Dinge nach, und noch viel weniger unterhielten sie sich darüber. Andererseits hielten sich anständige Frauen auch nicht in einem Bordell auf. Der Gedanke trug nicht gerade zu ihrer Beruhigung bei.
Sie erreichten das Ende des Ganges, und Madame Renaud wies auf die Tür zu ihrer Rechten.
Der Raum roch nach billigem Parfum und Schweiß. Er war schlicht eingerichtet, mit einem großen, von Vorhängen umgebenen Bett, einem Waschtisch, einem Spiegel und einem Sessel. Zwei Wandleuchter erhellten das Zimmer nur unzureichend. Das Fenster gegenüber von der Tür war geschlossen, seine Läden verriegelt. Die Stille wirkte seltsam angespannt. Claudine runzelte die Stirn.
„Alain?“
Im Schatten rührte sich etwas, und ein Mann trat hervor. Claudine schlug das Herz bis zum Hals. Das war ganz gewiss nicht Alain. Zuerst einmal war dieser Mann sehr viel größer als die Person, die sie hier treffen sollte. Dieser geschmeidige, machtvolle Körper wies nicht die geringste Ähnlichkeit mit der gedrungenen Gestalt auf, die sie erwartet hatte. Als der Mann sie ansah, hielt sie abrupt den Atem an. Das Gesicht mit seinen klassischen Zügen musste einst sehr attraktiv gewesen sein. Doch jetzt verunstalteten zwei gezackte Narben die linke Seite seiner Stirn. Das Auge und die Wange darunter wurden von einer dunklen Lederklappe verdeckt. Er strahlte eine gefährliche männliche Kraft aus, deren Wirkung gleichzeitig faszinierend und beunruhigend war.
Es kostete Claudine einige Mühe, sich zu fassen. „Vergeben Sie mir, Monsieur. Ich muss mich im Zimmer geirrt haben.“
Ihr Ausdruck und der stockende Atem überraschten den Mann nicht. Er hatte sich inzwischen daran gewöhnt, wie die Menschen ihn ansahen. Niemand konnte leugnen, dass seine Erscheinung kaum dazu geeignet war, Vertrauen zu erwecken.
„Ich glaube nicht, Madame.“
Er trat näher, um sie besser sehen zu können. Ihr Anblick versetzte ihm einen Stich. Zunächst einmal war sie sehr viel jünger, als er erwartet hatte – kaum älter als zwanzig. Darüber hinaus war sie atemberaubend. Das schwache Licht fiel auf glänzende braune Locken, deren Farbe ihn an köstliche, reife Haselnüsse erinnerte. Sie umrahmten ein schönes Gesicht, das beherrscht wurde von großen dunklen Augen und dem verführerischsten Mund, den er je gesehen hatte. Für eine Frau war sie hoch gewachsen und schlank. Weitere Einzelheiten wurden von ihrem Umhang verborgen. Einen kurzen Moment stellte er sich vor, ihr diesen Umhang abzunehmen. Jeder Mann würde genau das tun wollen …
Genet wurde zunehmend geschickter bei der Rekrutierung seiner Agenten. Ganz der französischen Tradition entsprechend nutzte er Frauen ebenso wie Männer für seine Organisation. Allerdings sahen die weiblichen Agenten normalerweise nicht aus wie diese hier. Und doch war ihr Auftreten nicht das einer Kurtisane. Zweifellos waren ihre Schönheit und offensichtliche Unschuld in höheren Kreisen von Nutzen. Schließlich waren Regierungsbeamte und ausländische Botschafter ebenso wenig immun gegen den Charme einer solchen Schönheit wie andere Männer. Mehrere von ihnen besuchten Madame Renauds Etablissement.
Er machte einen weiteren Schritt auf sie zu. „Sie sind gekommen, um Alain Poiret zu treffen.“
Claudines Herz klopfte heftig. Sie hatte sich immer für recht groß gehalten, aber dieser Mann überragte sie um Haupteslänge. In dem engen Raum wirkte seine Gegenwart fast einschüchternd. Dennoch konnte sie es sich nicht leisten,
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