Historical Weihnachten Band 6
dann hatte Lord Wutherton den arrogantesten, anmaßendsten Mann ausgesucht, dem Giselle jemals das Unglück hatte, zu begegnen.
„Da Sir Wilfrid mein Onkel ist, muss ich wohl seine Nichte sein“, erwiderte sie und versuchte dabei, nicht sarkastisch zu klingen.
„Also, dann seid Ihr Lady Giselle! Ich bin Myles Buxton, Mylady, welch ein glückliches Zusammentreffen! Ich muss sagen, was man sich über Eure Anmut erzählt, wird Eurer tatsächlichen Schönheit in keiner Weise gerecht.“ Er gab seiner tiefen Stimme einen unangemessen vertraulichen Unterton und schien völlig zu ignorieren, dass sich hinter dem Karren mit dem eingekeilten Baumstamm inzwischen eine Reihe kleinerer Kutschen und Equipagen gestaut hatte.
Giselle gab sich große Mühe, Haltung zu bewahren, denn sie wusste ganz genau, dass ihr Erscheinungsbild im Augenblick alles andere als anmutig war. Ihr Umhang war verrutscht, ihr Gewand schmutzig und zerrissen, und außerdem schwitzte sie. Wenn sie sich überhaupt schön fand, dann bestimmt nicht gerade in diesem Moment. Buxtons Scheinheiligkeit erinnerte Giselle an den heuchlerischen Charme, mit dem Bernard Louvain ihrer Freundin Cecily den Hof gemacht hatte.
Aber ihr Onkel hatte ihn eingeladen, er war Gast des Hauses, und ob sie wollte oder nicht, sie musste wenigstens die Form wahren. „Willkommen auf Wutherton Castle“, sagte sie deshalb mit kühler Höflichkeit. „Wenn Ihr mich jetzt bitte entschuldigt, ich muss mich um …“
Buxton wartete nicht einmal das Ende ihres Satzes ab, nickte nur kurz und winkte dann drei der Männer herbei, die sich im Hof herumgetrieben und die Szene bis jetzt interessiert, aber tatenlos beobachtet hatten. Im Handumdrehen hatten sie den Stamm geschultert und versuchten mit vereinten Kräften, ihn aus dem Tor zu drücken.
Noch bevor Giselle etwas sagen oder gar eingreifen konnte, zog Buxton Umhang und Jacke aus, warf beides achtlos über den Stamm und packte ebenfalls mit an. Eine Sekunde lang war Giselle wirklich überwältigt, einerseits von der Sorglosigkeit, mit der er sein fein gestärktes, blütenweißes Hemd ruinierte, andererseits von dem muskulösen Oberkörper und den starken, breiten Schultern, die sich darunter befanden. In der nächsten Sekunde aber sah sie das selbstzufriedene Grinsen, das unmissverständlich ihr galt und so viel besagte wie: Bin ich nicht ein toller Kerl?
Eitelkeit war etwas, das Giselle nicht im Geringsten beeindruckend fand. „Da Ihr Euch nun dieser Sache annehmt, Sir Myles, kann ich mich inzwischen um Eure Unterbringung bemühen. Wenn ich es richtig in Erinnerung habe, dann habt Ihr zehn Bedienstete in Eurem Troß.“
„Zwanzig“, verbesserte Buxton. Giselle blieb die Luft weg.
Zwanzig? Er hatte die Hälfte angekündigt, und nun musste sie für die doppelte Anzahl von Männern Unterkunft und Verpflegung bereitstellen. „Wenn Ihr den Stamm herausgezogen habt, bringt ihn bitte direkt in den Festsaal“, wies sie den Jagdaufseher an.
„Was immer Ihr wünscht, Mylady“, entgegnete Buxton mit einer kurzen Verbeugung, als würde jedes gesprochene Wort allein ihm gelten.
„Das muss nicht Eure Sorge sein. Der Mann weiß genau, was er zu tun hat.“
Auch gut. Zumindest hatte er seine Hilfe angeboten. Selbst wenn eine solche Aktion eigentlich unter seiner Würde war, so war sie doch auf jeden Fall geeignet, Lady Giselle milde zu stimmen. Er hatte zwar kein freundliches Abschiedswort von ihr gehört, aber das Knarren des Wagens, die lauten Rufe der Männer und das Ächzen des Baumstammes, als er mit einem Ruck aus seiner Verkeilung sprang, hatten ihre Stimme wahrscheinlich übertönt. Sie war schon auf dem Weg zur Treppe, langsam und, wie ihm schien, beinahe widerstrebend.
Immerhin hatte sie gerade ihren zukünftigen Ehemann kennengelernt und wäre vielleicht gern noch einen Augenblick geblieben.
Bestimmt war sie nur so kurz angebunden, weil ihr erstes Zusammentreffen unter einem schlechten Stern stand. Trotz ihrer verschmutzten Kleidung war ihr Gang aufrecht, ihre Erscheinung grazil und würdevoll.
Es war verwunderlich, dass Sir Wilfrid die Vorzüge seiner Nichte eher zurückhaltend beschrieben hatte, anstatt, wie bei solchen Verhandlungen üblich, maßlos zu übertreiben. Nein, mit ihrem herzförmigen Gesicht, den faszinierenden grünen Augen und ihren sinnlichen Lippen war Lady Giselle eine Schönheit, wobei ihre sinnlichen Lippen … Wenn er es sich recht überlegte, waren sie doch ein bisschen verkniffen, und für eine
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