Historical Weihnachten Band 6
Trauer und Verzweiflung.
Aufschnarchend schreckte Sir Wilfrid in seinem Stuhl hoch und erfasste die Szene mit einem Blick. „Ha, sie spielen Sankt Nikolaus und die drei Schwestern!“
Die Geschichte vom Heiligen Nikolaus, der drei mittellose Schwestern mit einer großzügigen Mitgift ausstattet, damit sie mit ihren Auserwählten einen ehrenwerten Lebenswandel führen können, war an Weihnachten natürlich sehr beliebt. Lady Giselle hätte sich dennoch lieber ein anderes Thema gewünscht.
Die zweite Schwester erschien mit ihrem Verlobten im Schlepptau, und auch sie trug dem sichtlich betroffenen Nikolaus gestenreich ihren Kummer vor.
Beim Auftritt der dritten Schwester allerdings machte sich Heiterkeit im Saal breit; jemand lachte laut auf, andere kicherten, und einige Köpfe drehten sich zu Giselle herum. Sie brauchte nur den Bruchteil einer Sekunde, um zu erkennen, wer sich unter dem braunen Gewand verbarg, das ihrem so verdächtig ähnlich sah.
Mit nervösen, fahrigen Gesten beschrieb Sir Myles äußerst pointiert, wie er sich den desolaten Zustand einer Burgherrin vorstellte, die die Last einer großen Gesellschaft zu tragen hat. Giselle biss sich auf die Lippe und verzog keine Miene, bis sie auf einmal entdeckte, dass sie nicht die Einzige war, die man persiflierte.
Der Schauspieler, der sich wie ein Anhängsel an Sir Myles’ linken Arm klammerte und zur Erheiterung aller mindestens einen Kopf kleiner war als er, trug unverkennbar seine Züge. Mit federndem Gang und arroganter Miene schritt er neben seiner hektisch gestikulierenden Verlobten her, ohne sie eines Blickes zu würdigen.
Gut beobachtet, dachte Giselle und musste unwillkürlich lächeln.
Der Heilige Nikolaus, gerührt von dem Schicksal der drei mittellosen Mädchen, begann nun, Säcke mit Gold an sie zu verteilen. Alle bedankten sich überglücklich, bis auf eine. Die größte und kräftigste der drei Schwestern trat einen Schritt zurück, griff sich ans Kinn, neigte den Kopf zur Seite und sah aus, als kämen ihr plötzlich Bedenken. Der schmächtige Bräutigam versuchte, sie auf den Arm zu nehmen, was sie jedoch mit einem heftigen Schlag auf seinen Kopf quittierte. Da fiel er vor ihr auf die Knie, zeigte sich reumütig und schuldbewusst, und siehe da – die stämmige Lady hatte ein Einsehen, umarmte ihn und wirbelte ihn gar durch die Luft. Alle lachten, und unter dem frenetischen Klatschen des Publikums nahmen sich alle Schauspieler bei der Hand und verbeugten sich.
Dabei fing Giselle einen Blick von Sir Myles auf – einen fragenden Blick, der nach ihrer Zustimmung oder auch nach ihrer Absolution suchte.
Nichts, was er bisher gesagt oder getan hatte, hätte ihr mehr schmeicheln können. Seine Darstellung der zögernden Braut neben einem buhlenden Bräutigam war nicht nur lustig, sondern auch einfühlsam und sehr taktvoll, das musste sie eingestehen.
Aber warum jetzt schon alle Trümpfe aus der Hand geben und ihm applaudieren? Giselle verbarg ihr Lächeln hinter dem zarten Stoff ihres Taschentuches. Betrachtete man sein bisheriges sprunghaftes und äußerst verwirrendes Verhalten, so war es durchaus legitim, ihn noch eine Weile im Ungewissen zu lassen.
Am nächsten Morgen stand Sir Myles noch am Fenster seines Gemachs, als alle anderen Ritter den Seitenflügel der Burg, in dem sie mit ihrem Gefolge untergebracht waren, längst verlassen hatten.
Einige waren zur Frühandacht in die Kapelle gegangen, andere waren schon auf dem Weg in den Speisesaal. Sir Myles jedoch konnte sich weder zu dem einen noch zu dem anderen entschließen und war froh, einen Augenblick allein zu sein.
Zuletzt hatte er geradezu mit Verdruss auf den Lärm in den Gängen und in den Gemächern reagiert, auf die lauten Schritte, das Rufen und Lachen und Türenknallen. Nun, nachdem alle fort waren, genoss er die Stille des Morgens und den Blick auf den Burghof mit dem Gesindetrakt und den Stallungen, und er fand, dass Sir Wilfrid zu Recht stolz auf seinen Besitz war.
Dies war nicht einfach nur eine Festung, es war ein Zuhause. Etwas, das er sich immer gewünscht und bisher nie besessen hatte, auch nicht als Kind. Bei seinem Vater hatte er sich immer Fehl am Platze gefühlt, unwillkommen und ausgegrenzt, und als er herangewachsen war und seiner eigenen Wege gehen konnte, hatte er sich nur danach gesehnt, das Schloss, das Charles Buxton ihm übereignet hatte, zu einem Heim zu machen.
Zu einem Heim wie diese Burg – und in diesem Heim eine Frau, die er lieben und
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