Historical Weihnachten Band 6
Schulter.
Und da kam er endlich! Er blieb nah bei der Tür stehen und lächelte ihr zu – ein Lächeln, das sie vollkommen aus der Bahn warf und eine Konzentration auf den Gottesdienst endgültig unmöglich machte.
Kaum war die Messe vorüber, sprang Giselle auf und ging geradewegs auf Sir Myles zu, gefolgt von Lady Elizabeth Cowtons und Lady Alice Derosiers neugierigen Blicken.
Sir Myles nahm ihren Arm und führte sie durch die Tür zu einer Nische außerhalb der Kapelle, wo sie ungestört waren.
„Ich danke Euch für Eure Gabe, dieser Schal ist wunderschön“, begann Giselle und streichelte den seidigen, weichen Stoff. „Ihr habt mir eine große Freude gemacht.“
„Die Farbe steht Euch auch viel besser als die andere, wenn ich das in aller Bescheidenheit sagen darf.“
„Seid aber nicht zu bescheiden, Mylord, sonst muss ich Euch für einen schlechteren Schauspieler halten als den, den ich gestern in Euch gesehen habe.“
Bei ihren Worten sah er aus, als sei ihm gerade eine Zentnerlast von der Seele gefallen. „Dann habt Ihr meine kleine Posse also mit Wohlwollen betrachtet? Ehrlich gesagt, ich dachte schon, ich sei vollends in Ungnade gefallen. Wenn Ihr nur ein- oder zweimal gelächelt hättet, hätte ich heute Nacht besser schlafen können.“
„Nun, ich habe nicht bemerkt, dass Ihr überhaupt zu mir herübergeschaut habt oder dass Euch meine Zustimmung etwas bedeutet hätte.“
„Ihr täuscht Euch, Mylady.“
Seine Stimme klang sanft und betörend, so zärtlich wie der Kuss, den er ihr im Gemach ihres Onkels gegeben hatte. Giselle erinnerte sich genau, wie seine Lippen sich angefühlt hatten.
„Ich muss gestehen, ich war selbstsüchtig und hatte nur mein eigenes Vergnügen im Kopf. Das Spiel hat mich einfach mitgerissen, und vor lauter Übermut habe ich nicht bedacht, dass ich Euch verletzen könnte.“
„Ich bin nicht vollkommen humorlos, Sir Myles“, erwiderte Giselle. „Und außerdem war ich ja nicht die Einzige, die so trefflich parodiert wurde.“
„Ja, Peter hat brillant gespielt. Wir hatten vorher nicht abgesprochen, wie er mich darstellen würde.“
Wie er so dastand mit diesem entwaffnenden Lächeln, hätte Giselle beinahe vergessen, woher ihre Vorbehalte ihm gegenüber gekommen waren. Sie wollte ihm eine faire Chance geben, wollte mehr über ihn erfahren, damit sie ihm nicht unrecht tat. Aber einwickeln lassen wollte sie sich auch nicht, und Charme war etwas, das sie mit Unaufrichtigkeit gleichsetzte.
„Darf ich Euch heute noch ein weiteres Geschenk machen?“, fragte er. „Mit den beiden ersten habe ich ja nicht ins Schwarze getroffen, also habe ich noch etwas wiedergutzumachen. Kommt mit mir in den Stall!“
„In den Stall?“
„Dort wartet eine Überraschung auf Euch. Ich nehme doch an, Ihr reitet gern. Wenn Ihr ein unabhängiger Mensch seid, genießt Ihr es doch sicher, frei wie der Wind über die Felder zu preschen.“
Was gefiel ihr plötzlich nicht mehr an dieser Unterhaltung? Er nahm an. Er setzte voraus. Er zog Rückschlüsse aus ihrem Verhalten, ohne sie zu kennen. Plötzlich wurde ihr klar, wie leicht sie sich von seiner Ausstrahlung verführen ließ, wenn er sie mit Freundlichkeit und Zuvorkommenheit behandelte.
Schon am Tag nach der Hochzeit würde nichts davon mehr übrig sein, und er würde sich in einen despotischen Ehemann verwandeln wie der von Cecily, der seine Frau aller Freiheiten beraubte. Giselle schluckte und versuchte, sich nichts anmerken zu lassen.
„Das würde ich sicher gern, Sir Myles, aber ich kann die Burg nicht einfach so verlassen. Wenn etwas Unvorhergesehenes passiert …“
„Ach, ich vergaß, die Pflichten einer Hausherrin! Aber eine gute Gastgeberin muss auch dafür sorgen, dass ihre Gäste zufrieden sind und sich vergnügen, nicht wahr? Eine größere Gesellschaft wird heute ausreiten, und ich bin sicher, dass Euer Onkel nichts dagegen einzuwenden hätte, wenn Ihr Euch uns anschließt. Fragen wir ihn!“
Myles hatte einen Nerv getroffen. Giselle war eine gute und leidenschaftliche Reiterin, und sie war schon zu lange in diesen Mauern eingesperrt, um die Aussicht auf ein paar Stunden an der zwar kalten, aber belebend frischen Luft nicht unheimlich verlockend zu finden. Ihre Gäste würden es zu schätzen wissen, wenn sie sie begleitete, und nach der Rückkehr wäre immer noch Zeit genug, sich um die Küche zu kümmern.
„Gut. Ich werde meinen Onkel fragen.“
„Dann darf ich Euch zu ihm begleiten“, sagte er
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