Historical Weihnachtsband 1991
ihr seine Ehrerbietung ebenso schuldig wie all ihre anderen Beaus?
Unter normalen Umständen hätte er das Billett fortgeworfen und vergessen. Dies war nicht die erste derartige Aufforderung, die er von einer Frau erhalten hatte.
Aber er mochte Carlton Simpson, und er wollte seine Familie nicht beleidigen, indem er einen Pflichtbesuch verweigerte. Er legte das Schreiben zurück auf den Tisch. Am Nachmittag würde er zu Carltons Anwaltspraxis hinüberreiten. Es konnte allenfalls eine Sache von Minuten sein, seinen scheinbaren Mangel an Umgangsformen zu erklären.
Es war kurz vor zwei, als Yancy die Zügel seines Pferdes um den Pfosten vor dem kleinen Holzhaus schlang. Er trat ein und wurde nach kurzem Wortwechsel mit dem Sekretär in Carltons Büro geführt.
„Welch angenehme Überraschung." Carlton erhob sich hinter seinem Schreibtisch.
„Kommen Sie in einer juristischen Angelegenheit, oder wollten Sie nur mal eben reinschauen?"
„Das letztere. Aber ich will Ihnen Ihre kostbare Zeit nicht stehlen. Wie Sie wissen, war ich während der letzten zwei Monate geschäftlich in New Orleans und kam erst gestern am späten Nachmittag zurück. Nachdem ich den Abend im Club verbracht hatte, kehrte ich nach Hause zurück und ging schnurstracks zu Bett. Erst heute morgen kam ich dazu, einen Blick auf meine Korrespondenz zu werfen." Er reichte Carlton das Billett. „Mein Diener sagte mir, dies sei vor über zwei Wochen gekommen. Ich wollte Ihnen nur erklären, warum ich bisher nicht darauf reagiert habe."
Carlton öffnete den Umschlag. Nachdem er einen kurzen Blick auf die Note geworfen hatte, lachte er laut auf. Er lud Yancy ein, Platz zu nehmen, bevor er zu seinem eigenen Sessel zurückkehrte. „Ich denke, ich bin es, der hier eine Erklärung schuldig ist." Carlton berichtete seinem Gegenüber von der Wette, und beide Männer stimmten darin überein, daß die Note lediglich dazu dienen sollte, ein Pokerspiel in die Wege zu leiten.
Als Yancy eine Stunde später wieder sein Pferd bestieg, umspielte ein Lächeln seine Mundwinkel. Da er bereits in jungen Jahren einen Haufen Geld geerbt hatte, gab es wenig, was er in seinen neunundzwanzig Lebensjahren noch nicht erlebt hatte. Daß eine Frau ihn sich für ein Pokerspiel ausgespäht hatte, das war jedoch etwas völlig Neues. Alle Spiele, an denen er sich mit dem schönen Geschlecht zu erfreuen pflegte, hatten bisher im Schlafzimmer stattgefunden. Andererseits aber war die gesamte
Situation in bezug auf Miss Simpson so grotesk, daß sie ihn fast schon wieder reizte.
War sie tatsächlich eine so gute Spielerin? Er gab dem Grauschimmel einen leichten Hieb mit den Fersen, und dieser fiel in Galopp. Er würde einfach abwarten, was als nächstes geschah. Wenn die Entschlossenheit der Lady den Darstellungen ihres Bruders entsprach, würde sie sich bald etwas Neues einfallen lassen.
Drei Tage nach seinem Gespräch mit Carlton sah Yancy Amelia zum ersten Mal. Es war in Horton House, wo er mit einer Begleiterin in einer abgeschiedenen Ecke des Speisesaals saß. Norma Fisher war hübsch, aber leider von der redseligen Sorte, so daß Yancy einfach nur dasaß und so tat, als hörte er ihr zu. Als jedoch der Name Amelia Simpson fiel, war er plötzlich ganz Ohr.
„Verzeihung, was sagten Sie eben?"
„Amelia Simpson. Sie ist gerade mit einem weiteren ihrer Verehrer eingetreten."
Norma verzog das Gesicht. „Ich verstehe einfach nicht, was sie für Männer so anziehend macht. Wahrscheinlich ist es ihr Geld."
Yancy hörte nur halb hin, während er die Frau musterte, die am Eingang stehengeblieben war. Ein kleiner Hut saß auf ihrer blonden Frisur, und sogar von seinem abgelegenen Platz aus konnte Yancy ihre von dicken Wimpern umgebenen großen Augen und die vollen Lippen erkennen — Lippen von der Art, die geradezu darum betteln, geküßt zu werden. Das blaugoldene Tageskostüm schmiegte sich wie angegossen an ihren üppigen Busen und die zierliche Taille. Hochgewachsen, von königlicher Gestalt, war die Lady tatsächlich eine Schönheit im wahrsten Sinne des Wortes. Doch als Mann von Welt, der er war, konnte Yancy aus ihrem Auftreten erkennen, daß Amelia Simpson ebensogut ein Schild um den Hals hätte tragen können: Berühren verboten! — eine höchst verführerische Kombination.
Das Mahl wurde aufgetragen, und obwohl Yancy bemüht war, sich nun wieder voll seiner Begleiterin zuzuwenden, schweifte sein Blick doch immer wieder ab zu dem Tisch auf der anderen Seite des Saales. Er
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