Historical Weihnachtsband 1991
wußte, daß er früher oder später, auf die eine oder andere Weise, die Bekanntschaft der blonden Schönheit machen würde, die dort saß.
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Eine Woche später musterte sich Amelia in dem hohen Kristallspiegel in Mary Brooms Schlafzimmer. Das gestärkte weiße Hemd, die Brokatweste und die grauen Hosen paßten ihr ausgezeichnet. „Meinst du, ich kann als Mann durchgehen?"
Mary schüttelte den Kopf. „Ich hoffe, der Raum ist nicht zu hell beleuchtet. Du hast einfach nicht das Gesicht für einen Mann."
„Dafür habe ich schon gesorgt. Mir fiel ein Schneider ein, der mal Carltons Garderobe für einen Kostümball gemacht hat. Damals erklärte er Carlton, daß man sich einen Schnurrbart über die Lippe kleben kann. Heute nachmittag war ich bei ihm. Er wartet schon in seinem Laden auf mich, um mir einen Schnurrbart anzukleben, bevor ich in den Herrenclub gehe." Amelia zog an der Kette eine Taschenuhr aus der Westentasche. „Ich muß jetzt los, Mary, oder ich komme zu spät, um noch ins Spiel einzusteigen."
Mit gespieltem Ernst erhob sich Mary von der Bettkante. „Amelia, ich denke, es ist meine Pflicht, daß ich noch einmal versuche, dir die ganze Geschichte auszureden.
Ich mache mir Sorgen, daß jemand dahinterkommen könnte, was du da wieder ausgeheckt hast. Weiß der Himmel, die Männer würden es dir niemals verzeihen, daß du in ihre Domäne eingedrungen bist. Die ganze Sache ist einfach unerhört. . ."
Mary konnte sich ein Kichern nicht verkneifen, „ . . .und zugleich herrlich aufregend."
„Nun gut, Mary, du hast deiner Pflicht Genüge getan. Und jetzt hilf mir bitte in den Überzieher."
Mit Marys Hilfe schlüpfte Amelia in den schwarzen Gehrock. Dann folgte das Aufsetzen des Zylinders.
Mary trat zurück, begutachtete das Werk und lachte. „Ich muß gestehen, daß du, abgesehen von deinem Gesicht, als junger Gentleman durchgehen könntest. Deine Größe von einem Meter siebzig trägt ihren Teil dazu bei. Also los, wenn du denn zum
äußersten entschlossen bist. Wir gehen durch den Hinterausgang. Ich habe bereits ein Pferd satteln lassen, das vor dem Kutschenhaus angebunden ist. Es wird niemand da sein, der dich erkennen könnte — wenn dich in dieser Verkleidung überhaupt jemand erkennen würde."
Erst als Amelia den Club betrat, begann sie nervös zu werden. Der Raum machte einen düsteren, bedrückenden Eindruck auf sie. Tabakqualm lag schwer in der Luft.
An der Bar, die eine Seite des Raums einnahm, standen mehrere Männer. Das Bildnis einer nackten Frau, das an einer anderen Wand hing, faszinierte sie. Im Vergleich zu ähnlichen Gemälden, die sie im Pariser Louvre gesehen hatte, empfand sie die Frau aber als etwas zu drall. Amelia ließ den Blick weiter durch den Raum schweifen. Weitere Männer saßen auf verschiedenen Plüschsesseln und -sofas, die über den Raum verstreut standen. Wo fand wohl das Pokerspiel statt? fragte sie sich einigermaßen ratlos.
„Entschuldigen Sie, mein Herr, aber dies ist ein privater Club."
Amelia wandte sich zu dem Mann um. „Dessen bin ich mir bewußt", sagte sie mit tiefer Stimme. Wie sie es einstudiert hatte, befleißigte sie sich des gleichen wichtigtuerischen Tons, den sie von den meisten ihrer Verehrer her kannte. „Mein Bruder, Mr. Carlton Simpson, schlug vor, seinen Platz am Spieltisch einzunehmen, da er selbst heute verhindert ist. Da ich sonst nichts weiter vorhatte, beschloß ich, das Angebot anzunehmen."
„Oh, tut mir leid, Sir", sagte der Mann, und seine Haltung änderte sich umgehend.
„Das wußte ich nicht. Folgen Sie mir, Sir, ich werde Sie zum Pokerzimmer führen.
Einige der Herren sind bereits eingetroffen."
Amelia ging mit langen Schritten hinter ihm drein. Sie genoß die Freiheit der Bewegung, die ihr die Hosen erlaubten. Besonderen Gefallen hatte sie daran gefunden, wie ein Mann zu reiten und nicht auf den Damensattel angewiesen zu sein.
Als sie den kleinen Raum betraten, holte Amelia tief Atem. Wenn sie diese Gentlemen zum Narren halten konnte, war ihr Plan so gut wie gelungen.
Drei Männer saßen bereits am Spieltisch, und alle blickten jetzt fragend auf. Auf keinen von ihnen paßte die Beschreibung, die ihr von Yancy Medford gegeben worden war.
„Dies, Gentlemen, ist Mr. Carlton Simpsons jüngerer Bruder", verkündete der Mann, der sie hereingeführt hatte. „Er wird als fünfter Spieler einspringen. Mr. Medford ist noch nicht eingetroffen, aber er sollte jeden Augenblick kommen. Soli ich Ihnen Ihre Drinks jetzt
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