Historical Weihnachtsband 1992
unverheirateten Frauen, bekümmerte sie wenig. Zu ihrer Überraschung hatte sie festgestellt, daß es ihr Freude machte, die Verantwortung für die Familie zu tragen. Ja, es erfüllte sie mit einer gewissen Befriedigung, für die zu sorgen, die von ihr abhängig waren.
Diese Rolle für die einer passiven Ehefrau einzutauschen konnte sie sich nicht vorstellen.
Cornelia drückte sich keineswegs vor den Pflichten einer gehorsamen Tochter. Ihre Mutter erwartete sie im vorderen Salon. Melanie Neville empfing an diesem Tag Gäste, und da schickte es sich, daß ihre Tochter ebenfalls anwesend war.
Ohne Murren unterzog Cornelia sich dieser Pflicht. Sie traf gern mit Menschen zusammen und fand die Gespräche der Freunde und Bekannten ihrer Mutter anregender als das
sonst übliche, belanglose Partygeplauder.
Cornelia trat in den Salon, gab ihrer Mutter einen Kuß und setzte sich auf ein Sofa.
Melanie Neville hatte sich mit Tarot-Karten beschäftigt, die sie schnell in einer Schublade verschwinden ließ, als es an der Haustür klingelte.
„Du siehst müde aus, Liebes", bemerkte sie und klopfte die Sofakissen zurecht. „Ich denke, du solltest dich mehr ausruhen."
„Wahrscheinlich", stimmte Cornelia zu. Weshalb sollte sie ihre Mutter mit der Tatsache belasten, daß sie nächtelang nicht zusammengekuschelt im Bett, sondern am Schreibtisch saß. Luciana Montrachet war ihr streng gehütetes Geheimnis.
Im Gegensatz zu ihrer Tochter machte Mrs. Neville einen ausgeruhten und zufriedenen Eindruck. Cornelia freute sich darüber. Sie liebte ihre Mutter, die sie streng, dennoch sanft aufgezogen hatte. Es gab keine Opfer, die sie gescheut hätte, weder für sie, Cornelia, noch für ihre jüngeren Brüder, obwohl sie richtige Schlingel gewesen waren.
Die Zofe, ein irisches Mädchen mit rosigen Wangen, kam herein. Sie trug ein schwarzes Kleid, eine rüschenbesetzte weiße Schürze und auf den roten Haaren ein weißes Häubchen. Ihre Mutter hatte sie nach der Göttin der Weisheit Sophia genannt. Frühere Dienstherrinnen hatten sie Bridget oder Mary gerufen, weil das zu Angehörigen der dienenden Klasse besser paßte. Mrs. Neville nannte Sophia bei ihrem richtigen Namen und behandelte sie mit Respekt, wofür sie mit prompter und gewissenhafter Bedienung belohnt wurde.
„Mrs. DeWitt, Madam", meldete Sophia und ließ eine grauhaarige, rundliche Dame eintreten, die ein blaues Satinkleid und ein Bolerojäckchen mit Keulenärmeln trug.
Auf dem Kopf thronte ein Federhütchen, dessen Schleier sie beim Hereinkommen hochschlug.
Cornelia wußte, daß Mrs. DeWitt ihren Wollmantel mit Pelzbesatz, ihr Lieblingsmodell, in der Eingangshalle gelassen hatte. Guten Freunden war es erlaubt, bei einem Besuch diese Sachen abzulegen. Weniger vertraute Bekannte behielten
Mäntel oder Jacken an, um anzudeuten, daß sie nicht beabsichtigten, die angebotene Gastfreundschaft auszunutzen.
Bei Besuchen waren so viele Regeln zu beachten, daß man schon von Kind in Fragen der Etikette geübt sein mußte, um keine Fehler zu machen.
Jetzt richtete Cornelia ihre Aufmerksamkeit auf Mrs. DeWitt.
„Ganz reizend, Cornelia, Liebes", bemerkte die Matrone und hauchte einen Kuß in die Luft neben die Wange der jüngeren Frau. „Sie sollten mehr ausgehen. Der arme junge Mr. Connors ist immer noch am Boden zerstört, weil Sie ihn abgewiesen haben."
„Meines Wissens ist er nach Europa gefahren, wo er sich glänzend amüsiert", erwiderte Cornelia. Sie mochte Davcy Connors und wünschte ihm nur das Beste. Das bedeutete aber nicht, daß sie ihn heiraten wollte. Sein angenehmes Wesen, sein Vermögen und der gesellschaftliche Status seiner Familie genügten ihr nicht. Etwas fehlte zwischen ihnen, was sie zwar nicht genau erklären konnte, aber auch nicht missen mochte. Lucianas Heldinnen fanden, wonach sie suchten, auch wenn sie vorher noch so viele Hindernisse überwinden mußten.
„Alles Theater, Cornelia", sagte Mrs. DeWitt, die es sich in einem Sessel bequem machte. „Ich weiß aus verläßlicher Quelle, daß er immer noch in Sie verliebt ist."
„Pech für ihn. Er sollte sich schleunigst eine andere Frau suchen", entgegnete Cornelia eine Spur bissig.
Mrs. DeWitt schaute sie einen Moment vorwurfsvoll an, che sie das Thema wechselte. „Habt ihr schon das Journal von heute gelesen?" wollte sie wissen.
Mrs. Neville beugte sich neugierig vor, da sie eine amüsante Klatschgeschichte erwartete. Die liebe Muffy las alles und kannte jeden. Man konnte immer darauf
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