Historical Weihnachtsband 1993
unterdrücken. Seth war immer schon so gewesen, herausfordernd und fast unverschämt. Manche hielten ihn deshalb für einen Spötter, doch Rafe kannte seinen Bruder besser, dem es keiner so schnell an Idealismus gleichtun konnte. Sogar jetzt noch, nach vier Kriegsjahren, bemühte er sich immer wieder, in allem das Gute zu sehen.
„Na schön, nenn es wie du willst. Ein toter General der Konföderierten würde mir nichts nützen."
„Dieser da wird es auch nicht, wenn du ihn lebendig gefangennimmst. Du bist ihm ein Fremder, ich nicht, und ich weiß, wie er ist."
Rafe zuckte die Schultern. „Das ist nicht meine Sache. Ich muß ihn bloß ins Hauptquartier bringen. Und es gibt keinen Grund mehr, Massey hier unten zu verstecken. Ich weiß doch, daß ihr beide da seid."
Ein schwaches Lächeln erhellte Seths Züge. „Ich wage anzunehmen, daß du es deinen Leuten nicht verrietest, falls sie zurückkämen."
Nach einem kurzen Besinnen antwortete Rafe. „Du irrst dich."
Seth lächelte immer noch, schwieg aber.
Rafe konnte nur den Kopf schütteln. „Du bist ein ganz verdammter optimistischer Narr."
„Wahrscheinlich stehe ich deshalb auch auf der Seite, auf der ich nun einmal stehe, und du auf der anderen", räumte Seth etwas niedergeschlagen ein.
Rafe schüttelte ein zweites Mal den Kopf und zog den Waffenrock aus. „Deck den General damit wärmer zu", sagte er beinahe heiter und bot dem Bruder die Hand.
„Frohe Weihnachten, Seth!"
„Frohe Weihnachten, Rafe!"
Rafe schaute Seth noch einen Moment an, fühlte, wie ihm die Augen feucht wurden, und schluckte die aufsteigenden Tränen herunter. Dann wandte er sich ab und stieg die schmale Kellertreppe hinauf. Oben rückte er den Brunnen trog sorgsam in die vorherige Position zurück.
Im Hause wartete Jaime auf Rafe Hampton.
„Ich glaubte dich im Bett", sagte Rafe und hoffte, der Junge würde ihm, Rafe, nicht ansehen, wie bewegt er noch war.
„Ich muß statt Miss Blythe die Wache halten, schließlich bin ich der Mann im Haus", gab Jaime sichtlich eifersüchtig zurück.
„Und ich könnte mir keinen besseren denken", räumte Rafe ehrlich ein, als er sich an die Muskete erinnerte.
Argwöhnisch wie immer starrte Jaime den Unionsmajor an.
„Würdest du etwas für Miss Blythe und mich tun, Jaime?"
„Kommt drauf an, was."
„Laß es uns wissen, wenn sich irgendwelche Reiter in der Umgebung sehen lassen!"
„Werd' ich Miss Blythe sofort melden und auch Captain Seth."
Rafe nickte. Er war zwar nicht gerade zufrieden, tröstete sich aber ein wenig mit dem Gedanken, daß, was Blythe wußte, auch er erfahren würde. Als er die Küche verließ, sah er noch, wie Jaime mit langen Schritten wie ein ganzer Mann aus der Tür stapfte.
Rafe stieg langsam die Treppe hinauf. Er wußte, daß er besser nicht zu Blythe gehen sollte. Im Zwiespalt all dieser widerstreitenden Empfindungen fühlte er sich nach dieser Nacht weitaus mehr zerschlagen als jemals während des ganzen Krieges.
Zerschlagen und erschöpft und zutiefst besorgt. Doch dann gewann etwas wie Zuversicht die Oberhand. Es tat so gut zu wissen, daß Seth am Leben war, so wohl, Blythe zu berühren und den kleinen Benji auf dem Arm zu halten. Es war, als sei man dem Leben wiedergegeben. Er stellte sich selbst eine Bedingung. Wenn Blythe schlief, wollte er sich zurückziehen und irgendwo im Hause eine Lagerstatt suchen, um selber noch eine Stunde oder zwei auszuruhen. Er konnte sich nicht einmal mehr besinnen, wann er das letztemal die Augen geschlossen hatte. Es schien eine Ewigkeit her zu sein. Er überlegte, wie lange erwohl auf diese Weise noch durchhalten mochte. Es gelang ihm nur mit Mühe, halbwegs klare Gedanken zu fassen. Warum tat er dann das alles hier? Vielleicht zog das Weihnachtsfest ihn in einen magischen Bann? Jahrelang hatte er Weihnachten aus dem Gedächtnis verdrängt, weil er die Erinnerungen nicht ertragen wollte, die Erinnerungen an das, was ihm verloren schien, vor allem aber an das Fest des Jahres 1860. Damals hatte ihm eine lachende Blythe das Jawort gegeben, um seine Frau zu werden. Seine Frau!
Gerechter Gott, wieviel Zeit sie doch versäumt hatten!
Allzu deutlich stand jener Weihnachtstag vor Rafes innerem Auge. Im Kaminfeuer knisterte das Holz, die jungen Leute standen um das Klavier und sangen alte Weihnachtslieder. Blythes Vater saß
in seinem Lieblingssessel und hörte ihnen wohlgefällig zu. Und über allem hing eine eigenartige Mischung von Gerüchen: der Harzduft der
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