Historical Weihnachtsband 1993
ihr.
Dennoch wußte Blythe, daß eigentlich noch immer keine Entscheidung gefallen war, Seth keineswegs außer Gefahr und der Verwundete auch nicht. Wie konnte sie nur so selbstsüchtig sein, bloß
an sich zu denken? Und doch genoß sie den Augenblick, lebte in der eigenen Sehnsucht, der Freude, Rafe in den Armen zu halten. Blythe überließ sich dieser Empfindung ganz und gar, brauchte diese kurze Spanne Zeit so dringend, um den Soldaten Rafe Hampton im Zaume zu halten und dabei den jungen Mann Rafe, den sie einst gekannt, für sich zu bewahren.
Ein leiser Aufschrei vom Bette her riß die beiden Menschen jäh in die Wirklichkeit zurück. Nur ungern gab Rafe Blythe frei. Sie eilte zu der Wöchnerin und legte ihr beruhigend eine Hand auf die Stirn. Doch Maria hatte sich bereits wieder entspannt und schlief weiter. Als Blythe zu Rafe zurückkam, sah er sie mit jenem eigentümlichen Blick an, den sie nun schon zu gut an ihm kannte.
„Wenn du jetzt nicht freiwillig zu Bett gehst, trage ich dich hinein."
Blythe sah mit einem Ausdruck in den goldbraunen Augen zu Rafe auf, der zwischen Herausforderung und Verheißung zu deuten war. Rafe lachte leise mit einem Anflug der früheren Sorglosigkeit, umfaßte Blythe und hob sie mit Leichtigkeit auf seine Arme. „Wohin?"
„In das angrenzende Zimmer", sagte sie und empfand wohltuend die Geborgenheit in seiner Nähe, als er sie mit weitausholenden Schritten hinüber brachte und auf ihr Bett niederlegte. Dann beugte er sich über sie, küßte sie nur einmal sehr zärtlich auf den Mund und wandte sich zur Tür.
„Kommst du wieder, sobald du mit Seth gesprochen hast?"
Rafe zögerte. Blythe übte einen geradezu verhängnisvollen Einfluß auf ihn aus und lähmte seinen Willen, wenn es um Pflichterfüllung ging. Die ganze Situation war überhaupt eine einzige Katastrophe. Seth, die Kinder, Blythe. Er machte eine hilflose Bewegung und ergab sich in sein Schicksal. Dann nickte er. Wie hatte Seth gesagt?
Eine schöne Weihnachtsbescherung? Das stimmte und ließ sich doch von zwei verschiedenen Seiten aus betrachten, entweder als wunderbares Fest oder als wahre Hölle.
Als Rafe aus dem Haus trat, hatte sich der Silberstreif in einen goldenen verwandelt, und der Himmel schimmerte im Morgenlicht. Die Sonne lugte eben über die Hügel.
Rafe hatte die derben Stulpenhandschuhe in der Küche gelassen und fühlte die beißende Kälte unangenehm an den Händen.
Der Brunnentrog war wieder an der vorbestimmten Stelle. Rafe bewunderte den Einfallsreichtum des Bruders, betätigte den geheimen Verschluß und legte den Eingang frei. Beim Hinuntersteigen erwachten die Erinnerungen und drängten sich vor sein geistiges Auge.
Seine und Blythes Familien waren eng befreundet gewesen und hatten einander häufig besucht. Blythe war viel jünger als er und Seth und hatte schon immer etwas an sich gehabt, das einen verzauberte, eine Begeisterungsfähigkeit und Herzensgüte, die beide Brüder zugleich erheitert und magisch angezogen hatte. So nahmen sie oft teil an Blythes Abenteuern, vor allem, wenn es darum ging, Tiere oder auch Menschen in Not beizustehen. Und an heißen Sommertagen pflegte Blythe die Jungen lachend mit sich in den Obstkeller zu ziehen, um dort heimlich Äpfel zu schmausen.
Weder Rafe noch Seth hatten allerdings in ihr die junge Frau gesehen, bis sie beide von der Universität als Erwachsene zurückkehrten und die schlanke Gespielin als schönes und damenhaftes Mädchen wiederfanden . . .
„Schließ die Tür!" befahl Seth von unten, und Rafe tat es. Er wollte jetzt nicht mit dem Bruder streiten. Vor vier Jahren hatten sie mit einer innigen Umarmung voneinander Abschied genommen im Bewußtsein, verschiedene Wege zu gehen, wie ihnen das Gewissen die Richtung wies. Fast wie Zwillinge waren sie aufgewachsen, die beiden Jüngsten der Familie, die nur ein Jahr trennte. Immer hatten sie alles geteilt, und obwohl Rafe der ältere von ihnen war, hatte er sich nie als Führer aufgespielt, und es hatte stets Gleichheit zwischen ihnen geherrscht, eine tiefe Achtung vor dem anderen mit all seinen Stärken, Schwächen und Unterschieden.
Sobald sich Rafes Augen ein wenig an die Dunkelheit gewöhnten, streckte er die Arme nach Seth aus, und die beiden Männer taten endlich, was sie bisher unterlassen hatten: sie hielten sich herzlich und mit einer tiefen, stummen Dankbarkeit umschlungen, daß sie einander nach diesen vier schrecklichen Jahren lebend wiedergetroffen hatten. Dennoch blieb eine
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