Historical Weihnachtsband 1993
Gefangenschaft geriet? Denn daß Seth den Schwerverletzten begleiten würde, stand für Rafe außer Frage.
Der Schmerz, der Rafe bei diesen Überlegungen durchfuhr, war schneidend und traf ihn ins Mark. Gott im Himmel, es hatte schon mehr als genug Tote gegeben, in der eigenen Familie und in all den anderen. Bei diesen krampfhaften Bemühungen, einen stichhaltigen Grund zu finden, den gegebenen Befehl nicht erfüllen zu müssen, die Pflicht außer acht lassen zu dürfen, wußte Rafe aber genau, daß sich das so leicht nicht machen ließ. Mochte die Konföderation auch praktisch besiegt und geschlagen sein, so gelang es ihren Verbänden immer noch, den Unionstruppen empfindliche Verluste beizubringen, Tod und Verwüstung zu verbreiten. Der bevorstehende Kampf um Petersburg und Richmond würde entsetzliche Mengen an Gefallenen und Verwundeten fordern. Wenn es daher auch nur die geringste Chance gab, Lee an der Ausführung seiner Pläne zu hindern oder sie ihm wenigstens zu erschweren, indem man ihn eines seiner fähigsten Mitstreiter beraubte, so mußte Rafe sie ergreifen. Und er durfte nicht danach fragen, welche persönlichen Konsequenzen es für ihn selbst haben mochte oder für die Menschen, die er liebte.
Verdammt, verdammt, verdammt!
Rafe schaute auf Blythe nieder. Mit hängenden Schultern stand sie da, völlig erschöpft. Obwohl die Augen noch vor Freude über die glücklich verlaufene Geburt leuchteten, waren sie längst nicht so munter und wach wie sonst immer. Rafe hatte Anzeichen ähnlicher Müdigkeit auch bei Seth bemerkt und auch er konnte sich kaum auf den Beinen halten.
„Leg dich endlich hin", sagte er zärtlich und verdrängte für den Moment seine quälenden Gedanken. Er streichelte Blythes Wange. „Die Kinder sind alle im Bett und werden längst schon schlafen."
„Und du? Und Seth?" fragte sie angstvoll.
„Ich glaube, daß wir für ein paar Stunden eine Art Waffenstillstand schließen könnten."
„Laß uns gemeinsam zu ihm gehen!" Ein Hauch von Argwohn schwang schon in ihren Worten mit.
„Nein." Rafes Stimme klang sehr entschieden. „Ich muß allein mit ihm reden."
„Aber du wirst nicht..."
Er beugte sich zu ihr nieder und küßte sie auf die Wange. „Nein, Liebste, ich werde ihm nichts tun, noch nicht. Wir brauchen alle erst einmal Zeit."
„Ich will nicht, daß du uns verläßt, ich könnte es nicht ertragen, wenn ..."
Rafe konnte sich nicht länger zurückhalten. Er nahm Blythe in die Arme, empfand beglückt die Nähe ihres Körpers, weich und hingebungsvoll, und preßte sie eng an sich. Er legte das Gesicht an das ihre und ließ eine Hand durch das dichte kastanienbraue Haar gleiten, spürte es seidig unter den Fingern und atmete den leichten Blütenduft ein, der davon aufstieg. Zum ersten Male seit vier Jahren kam er sich nicht besudelt vor, nicht schuldig, sondern schöpfte neue Hoffnung, liebte und war geborgen. Wie lange aber konnte das andauern? In stummer Verzweiflung drückte er Blythe noch dichter an sich.
Sie schien seine Gefühle zu begreifen. Soweit sie zurückdenken konnte, war es eigentlich immer so gewesen, abgesehen von den ersten paar Augenblicken in der Küche, als Rafe plötzlich aufgetaucht war. Da glaubte sie einem Fremden gegenüberzustehen. Jetzt war es nicht länger beängstigend, er war wieder Rafe, ihr Rafe mit all der Zärtlichkeit, der Stärke, die Blythe in Erinnerung gehabt hatte. Es war das schönste Weihnachtsgeschenk, das einzige, das sie sich von ganzem Herzen gewünscht hatte. Sie hob den Kopf, schaute Rafe in die Augen. In der blau grünen Tiefe spiegelte sich sein innerer Zwiespalt. Blythe stellte sich auf die Zehenspitzen und bot Rafe die Lippen. Sie sehnte sich nach einer innigeren Berührung, einer noch engeren Verbundenheit, einer größeren Verheißung. Und die wurde Blythe zuteil.
Erst berührte Rafes Mund den ihren zärtlich und kosend, doch dann steigerte sich der Kuß zu einem Verlangen, einer Leidenschaft, die den Boden unter Blythes Füßen schwanken machte. Sie hob beide Arme und schlang sie um seinen Nacken. Es war schon lange, sehr lange her, seitdem sie seine Kraft, die Wärme seines Körpers gefühlt hatte. Jetzt durchströmte sie unsägliche Wonne, das Blut schoß heiß pulsierend durch ihre Adern. Im tiefsten Inneren empfand sie eine Art Schmerz, die sie bisher niemals gekannt hatte, ein Ziehen und Pochen, und ihr war, als schlüge das Herz im Takt einer bittersüßen Melodie. Rafe war bei ihr, und er gehörte zu
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